Unvorbereitete Besucher*innen des kleinen Ortes Brignogan im Nordwesten der Bretagne dürften sich über aufwändig gestaltete Hausfassaden wundern: An diesen nämlich prangen nicht nur Fotos aus Filmen, sondern auch überdimensional vergrößerte Drehbuchseiten – was sich auf den ersten Blick wohl nur Kundigen erschließt. Man fragt sich: Wer oder was vermag eine kleine Gemeinde so sehr fürs Filmemachen zu begeistern, dass sie ihre Fassaden mit aufwändigen und teuer herzustellenden Ausschnitten aus Drehbüchern schmückt?
Die Antwort lautet, zugespitzt formuliert: Antoine le Bos. Mit einem seiner frühen Gefährten seit Jahrzehnten befreundet, verfolge ich Antoines erstaunlichen Aufstieg und den seines Stoffentwicklungs-Programms ‚Le Groupe Ouest‘ schon seit Längerem: von der kleinen Drehbuchschule hin zu einem großen Player im europäischen Script-Development-Geschäft. Mich fasziniert Antoines offensichtliche Fähigkeit, die eigene Leidenschaft so brennend und beharrlich nicht nur dem eigenen Unternehmen, sondern auch einer ganzen Region, letztlich der ganzen stolzen Filmnation Frankreich aufzuprägen – vor allem aber natürlich auch die Methodik seiner Drehbuchlehre. Von ihr scheint etwas Suggestives auszugehen. Dieses Jahr ergab sich die Möglichkeit, den Besuch bei meinem Freund mit einem Termin in den großzügigen Räumlichkeiten der Schule zu verbinden.
Es war nicht überraschend, Antoine le Bos als generöse und durchsetzungsstarke Persönlichkeit zu erleben, die sich gern mitteilt, groß denkt und für das sinnvoll Erscheinende alle Hebel in Bewegung setzt; aber auch als eine Figur, die, vielleicht ein wenig mit dem bretonischen Asterix-Klischee des unbeugsamen gallischen Dorfes spielend, ihre Kraft aus dem Widerständigen zieht. Statt der in Frankreich dominierenden Zentrierung auf Paris propagiert Antoine den Rückzug aufs Land – Einsamkeit an felsigen Bretagneküsten anstelle der Großstadt-Reizüberflutung. Statt der üblichen Drehbuchrezepte, Aktstrukturen und Dogmen wird das Intuitive, das Imaginative und Immersive gelehrt und gelernt. Le Bos wehrt sich auch gegen den handelsüblichen Weg, Autor*innen einfach mal schreiben zu lassen, um sich dann in den endlosen und tatsächlich oft fruchtlosen Prozess von Rewrite um Rewrite zu verlieren.
Stattdessen lehrt Le Groupe Ouest das bislang wenig beachtete ‚Pre Writing‘. Was nichts anderes bedeutet als das möglichst unmittelbare Eintauchen von Kreativen in ihre Story-Welt (an dieser Stelle ein schöner Gruß an VeDRA-Mitglied Eva-Maria Fahmüller, deren Arbeit sich ja ebenfalls darauf fokussiert!).
Die geschmückten Häuserwände sind also nur die Spitze des Development-Eisberges: In Brignogan finden sich großzügig dimensionierte Schulräume, eine komplexe Infrastruktur für jene Drehbuchschüler*innen, die dort das ganze Jahr über vor Ort Wochen zubringen, sowie Dozierende und Festangestellte, derer gegenwärtig circa 12 hier fest oder frei arbeiten. Le Groupe Ouest organisiert europaweit sehr unterschiedliche Development-Programme, Vernetzungen sowie interdisziplinäre Symposien mit Wissenschaftler*innen aller Couleur. Die dafür notwendigen finanziellen Zuwendungen nicht nur vom französischen Staat, sondern vor allem von den als äußerst bürokratisch verschrienen europäischen Förderprogrammen übersteigen das, was man hierzulande kennt, bei Weitem.
Eindrucksvoll sind natürlich auch jene inzwischen knapp hundert verfilmten Drehbücher, die ihren Erfolg mindestens teilweise einem der Development-Programme der Groupe Ouest verdanken. Der belgische Arthouse-Hit „Close“ (Buch und Regie: Lucas Dhont) ist ebenso dabei wie „Rosalie“ (Buch: Stefanie di Gusto, Sandrine le Costumer, Stephane Fieschi; Regie: Stefanie di Gusto), der es ebenfalls hierzulande kürzlich ins Kino schaffte.
Wenn ich Antoines Ausführungen richtig verstanden habe, geht es ihm fast ausschließlich um eine möglichst effektive Steigerung der halbbewussten Techniken, die es Autor*innen erlauben, sich ihren Figuren sinnlich, haptisch, handgreiflich zu nähern. Ziel ist es, die inneren Kräfte der imaginierten Geschichte kennenzulernen, ehe die Arbeit am Plot oder der Struktur beginnt. Vorgefertigtes und Festgelegtes meidet man soweit es geht.
Dazu arbeiten Le Bos und seine Mentor*innen mit Zeichnungen, imaginären Story-Landkarten, mit Bildern und Fotos. Neurowissenschaftliche und hirnphysiologische Erkenntnisse, wie sie auch in der Traumatherapie angewandt werden, sollen helfen, neue Nervensynapsen zu erschließen. Das Erzählen wird vom Schreibtisch weggeholt: ‚racconte-moi‘, ‚erzähl mir‘ lautet eine der Übungen. Storytelling verändert sich in der Beziehung. Autor*innen werden dementsprechend angehalten, sich ihren Ideen im Gehen redend oder, noch lieber, auf Schaukeln sitzend oder sich am Strand in Bewegung und in Beziehung zum Gegenüber zu nähern.
Das grundlegende Trainingsprogramm, mit dem man sich üblicherweise anmeldet, heißt LIM. Dieses ‚Less is More‘ bezieht sich nicht nur auf die mögliche Reduktion von Produktionskosten, sondern auch auf die Konzentration aufs Wesentliche. Das auf einige Wochen pro Jahr ausgelegte Programm ist offen für Autor*innen mit mindestens einem bereits realisierten Projekt. Aufbauend darauf gibt es diverse längerfristige Stoff-Entwicklungen, die einem strengeren Auswahlverfahren unterliegen und bis zu einem Jahr dauern können.
Mir ist dieser Ansatz sympathisch. Als Drehbuchlehrer und Coach folge ich, soweit es geht, ähnlichen Prämissen. In der Betonung des Ungebundenen, Nicht-Festgelegten aber steht ‚Le Groupe Ouest‘, genau wie vielleicht mein Ansatz auch, ein wenig im Gegensatz zur oft gepflegten streng strukturellen Methodik. Ganz sicher kann man sich da allerdings nicht sein, vielleicht wäre, um aus diesem Konjunktiv herauszufinden, eine statistische Erhebung sinnvoll, wie sich hierzulande in der Drehbuchlehre das Ungebundene zum Methodischen, das Intuitive zum Kognitiven, das Freie zum strukturell Festgelegten verhält.
Fakt jedenfalls ist, dass Le Groupe Ouest mit ihrem extrem freien Ansatz schließlich doch auch in Deutschland angekommen ist. MOIN, die Filmförderung Hamburg/Schleswig-Holstein hat sich überzeugen lassen. Wer bei MOIN neuerdings Förderung erhält, kommt um eine Trainingseinheit namens NEST, die mehrheitlich, allerdings nicht immer, von Le Groupe Ouest geleitet wird, kaum herum. Weit ab vom Schuss widmen sich dann irgendwo in Schleswig-Holstein europäische Mentor*innen gemeinsam mit Trainees (Gruppenstärke: circa 10 Personen) ein paar Tage lang in englischer Sprache der kollektiven Beschäftigung mit der Erzählabsicht und dem innersten Kern des Erzählten.
Dagegen regt sich vorläufig, wenn mich meine Recherchen bei NEST-Absolvent*innen nicht täuschen, von Seiten der Geförderten wenig Widerspruch – auch wenn es offensichtlich Persönlichkeiten gibt, denen dieser Ansatz eher liegt, während andere vielleicht weniger begeistert sind. Die radikale Vorgabe, alles kollektiv und in der Gruppe abzuhandeln und während des Workshops praktisch nichts zu schreiben, mag nicht jedermanns Sache sein. Wer noch am Anfang steht, profitiert vielleicht mehr als wer bereits über ein ausgearbeitetes Buch verfügt. Trotzdem bestätigen die, mit denen ich sprechen konnte, dass die Öffnung ins Intuitive, Nicht-Festgelegte und Kommunikative den Stoffen gutgetan hat.
Was allerdings nicht darüber hinwegtäuschen soll, dass das ‚Pre’ das eigentliche ‚Writing‘ nicht ersetzen kann… Und an dem Punkt stellen sich Fragen. Denn lässt sich Drehbuchschreiben wirklich nur übers ‚Anything goes‘ unterrichten und unterstützen? Hilft es nicht doch auch bisweilen, sich mit Theorien oder Strukturmodellen zu beschäftigen, und selbst wenn das nur den Zweck haben mag, dass man sich letztlich doch nicht an sie hält? Wie sich ‚Le Groupe Ouest‘ dazu verhält, war bisher für mich noch nicht konkret zu erfahren.
Versuche, sich von den starren Rezepten à la ‚Heldenreise‘ zu lösen, gab es hierzulande ja immer wieder, etwa im ‚Freistil‘ der viel zu früh verstorbenen Dagmar Benke, und auch meine Arbeit mit ‚the human factor‘ würde ich zu den ungebundenen Methoden rechnen. Gleichwohl bin ich der Überzeugung, dass sich im Erzählen auch universelle Muster und Prinzipien zeigen. Indem sich diese immer und überall, nur immer wieder in den unterschiedlichsten Ausprägungen manifestieren, sollten Lernende jede erdenkliche Freiheit haben, sie für sich selbst zu entdecken. Dass sie existieren, unterliegt aber für mich keinem Zweifel. Wie aber denkt man darüber in der Arbeit von ‚Le Groupe Ouest‘? Kann, ja soll man wirklich Drehbücher ohne jede vorbestehende Struktur entwerfen, oder schleichen sich da nicht durch die Hintertür doch wieder verborgene Muster, Aktstrukturen und Rezepte ein?
Vermutlich lässt sich das nur durch das ganz persönliche Erleben eines Trainingsprogramms beantworten. Tatsächlich habe ich vor, genau das zu tun – also mit einem eigenen Drehbuchprojekt eines der passenden Programme zu absolvieren.
Darüber hinaus aber wäre es nur zu wünschenswert, mit Antoine le Bos und seinen aus ganz Europa stammenden Mentor*innen hierüber noch mehr in Austausch und die befruchtende Diskussion zu kommen. Die Frage, wie sehr sich die Drehbuchlehre innerhalb vorgefertigter Muster bewegen oder sich im Gegenteil völlig der freien Assoziation hingeben sollte, ist nicht trivial, und vor allem noch nicht abschließend geklärt. Sie muss immer wieder neu bearbeitet werden.
Sollte dieser Bericht zu einer solchen Diskussion Anstoß geben, hat er seinen Zweck erfüllt.