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"Die Wahrheit besiegt alle Ketten": Dramaturgische Analyse des Films DAS LEHRERZIMMER

Als ich das erste Mal über DAS LEHRERZIMMER las, fühlte ich mich eher abgeschreckt. Es klang nicht gerade nach einem sinnlich beeindruckenden Filmvergnügen. Allein die spröde Figur auf dem Filmplakat empfand ich schon als wenig anziehend. Dann gewann der Film einen Preis nach dem anderen und stand schließlich in der Endauswahl um den Oscar für den besten internationalen Film. Momentan ist DAS LEHRERZIMMER, zumindest was Auszeichnungen betrifft, wohl der erfolgreichste deutsche Film. Grund genug, einmal nachzuforschen, was in Wahrheit hinter dem Phänomen „Lehrerzimmer“ steckt. Herausgekommen ist eine nüchterne dramaturgische Analyse.

Worum es geht

In DAS LEHRERZIMMER geht es um ein Gymnasium, dessen Gemeinschaft nach dilettantischen Versuchen, eine Diebstahlserie aufzuklären, auseinanderzudriften beginnt.

Im Zentrum steht die junge Mathematiklehrerin Carla, deren Ansatz, mithilfe einer Videoaufnahme eine klare Beweislage zu schaffen, die Lage weiter verschlimmert.

Form

DAS LEHRERZIMMER spielt fast komplett an einem fiktiven Gymnasium. Über den gesamten Bogen der Geschichte gibt es nur zwei Szenen, die außerhalb der Schule stattfinden, und das auch in nächster Nähe. Alle Figuren rekrutieren sich aus Schulpersonal, Schülerinnen und Schülern und Eltern. DAS LEHRERZIMMER ist also im Großen und Ganzen ein Kammerspiel mit allen dazugehörigen Vor- und Nachteilen: Auf der einen Seite beschränkte visuelle Möglichkeiten, auf der anderen die Fokussierung auf einen abgeschlossenen Mikrokosmos und die Konflikte, die dort ausgetragen werden.

Erzählart

Die Geschichte wird nicht klassisch durch eine Hauptfigur und ihr dramatisches Ziel angetrieben. Und es geht auch nur bedingt um systemisches Erzählen, bei dem die Figuren sich mit einem menschenfeindlichen System auseinandersetzen müssen. Vielmehr bewirkt die Protagonistin Carla mit ihrem Video eine Art Kettenreaktion von Ereignissen, die die Situation immer weiter verschlimmern. Daher kann man am ehesten von einer epischen Erzählung sprechen, denn das Schicksal nimmt, angefeuert durch viele kleine Fehler / Versagen verschiedener Figuren seinen Lauf.

Emotionalität

Obwohl Humor kaum zu finden ist und die Geschichte keinen Zweifel an ihrem missionshaften Charakter lässt, empfinde ich die immer neu aufflammenden Konflikte unter den Figuren als durchaus emotional und fesselnd. Was daran liegt, dass sie durchgehend gut motiviert sind, es für die Charaktere in der Regel um einiges geht und hinter den Argumentationslinien klare, wertbasierte Haltungen stehen. Dazu später mehr.

Genre

Ich verorte den Film als Drama, denn das Publikum kann hier aus zahlreichen kleinen Beispielen lernen, wie man sich in schwierigen Situationen verhalten oder besser nicht verhalten sollte. Für ein Drama spricht ebenfalls, dass sich keine klare Front zwischen „Guten und Bösen“ herauskristallisiert, sondern die verschiedenen Figuren alle Fehler machen.

Auf der anderen Seite spricht die epische Erzählweise, die die Situation auf schicksalhafte Art eskalieren lässt, auch für eine Tragödie. Die wird aber allenfalls zum Teil erzählt, denn das ganz große Desaster bleibt am Ende aus.

Thema

All die kleinen Fehler, die die Figuren begehen, haben mit ihrem Umgang mit Wahrheit zu tun. Ähnlich wie bei ANATOMIE EINES FALLS von Justine Triet geht es hier also um das Thema Wahrheit, präziser gesagt darum, welche Folgen ein inkompetenter Umgang mit Wahrheit haben kann. 

Das beginnt damit, dass Carlas Kollege Thomas eine Schülerin und einen Schüler bedrängt, andere zu denunzieren, obwohl sie angeben, nichts über die Diebstähle zu wissen. Carla selbst ist anschließend überzeugt, die langjährige Schulsekretärin Kuhn zweifelsfrei mit ihrem Video zu überführen, obwohl man dort im Grunde nur ein Kleidungsstück sieht. Und auch die Direktorin lässt der Beschuldigten keinen Raum mehr für „ihre Version“ der Wahrheit. 

Der Beschluss der Direktorin, nicht über die Angelegenheit zu sprechen, verschlimmert die Situation. Unter dem Druck von Eltern, Schülern und Kollegen müssen Carla und sie Stück für Stück zugeben, was passiert ist. Was zu verschiedenen Varianten der Geschichte führt und darin gipfelt, dass sie beginnen, Notlügen zu erzählen. Wunderbar zu sehen, wie die beiden Pädagoginnen durch ihre Inkompetenz im Umgang mit Wahrheit die Lage immer weiter eskalieren lassen und sich selbst in die Enge treiben. Eine Studie fast im Sinne von Kurosawas RASHOMON. 

Interessant sind dabei auch noch zwei weitere Aspekte: Erstens, dass sich fast jede Szene des Films konsequent und variationsreich mit dem Thema „Wahrheit“ auseinandersetzt. Und zweitens, dass praktisch jede Figur „ihre Wahrheit“ als die einzig richtige ansieht, obwohl sie alle bei ihrer Recherche/Ermittlung grob fahrlässig und inkompetent vorgehen. 

Meiner Meinung nach wird hier das gesellschaftliche Phänomen der „Fake News“ behandelt. Vor allem im Internet steht die Gesellschaft Verschwörungstheoretikern und rechten Hetzern oft hilflos gegenüber, die Front gegen eine vermeintliche „Lügenpresse“ machen und Redefreiheit mit kritikloser Akzeptanz ihrer Lügen, Denunziationen und Schmähungen verwechseln. Ihnen folgen in immer größerer Zahl empörte Wutbürger, die sich als Opfer des Establishments sehen und denen in der Regel die Kompetenzen für eine eigenständige, überprüfbare Informationsermittlung fehlen. Auf die sehen dann wiederum gerne etablierte, gebildete Menschen herab, statt sie als gleichberechtigt ernst zu nehmen. Die Gruppen kommunizieren nicht mit-, sondern übereinander und schaffen ihre eigenen, mehr oder weniger subjektiven Versionen von Wahrheit. 

Jede Figur in der Geschichte möchte, dass Regeln eingehalten werden. Und bricht selbst welche, um das zu erreichen.

Der Film hat die Auseinandersetzung in einen beispielhaften physischen Mikrokosmos, nämlich die Schule, übertragen. Bei den ständigen Auseinandersetzungen zwischen Gruppen und einzelnen Figuren geht es darum, welche Dynamik der falsche Umgang mit Wahrheit auslösen kann – nämlich ein Auseinanderdriften der Gesellschaft. Jedes Mal, wenn jemand einen neuen Fehler begeht, wird der Zustand schlimmer. Alle sehen und bedauern das, aber niemand hat die Kompetenz, einen Weg heraus zu weisen. Die Parallelen zu unserer wirklichen Welt sind erschreckend. Insofern kann man bei DAS LEHRERZIMMER auf eine gewisse Art auch von systemischem Erzählen sprechen.

Und am Umgang mit Wahrheit hängt noch ein weiteres allgemeingültiges Thema, nämlich die Einhaltung von Regeln. Jede Figur in der Geschichte möchte, dass Regeln eingehalten werden. Und bricht selbst welche, um das zu erreichen: Gleich zu Anfang möchte Carlas Kollege Thomas die Diebstähle beenden und nötigt dafür die Kinder, andere zu denunzieren. Carla verletzt für das gleiche Ziel die Persönlichkeitsrechte ihrer Kolleginnen und Kollegen. Dann beschuldigt sie die langjährige Schulsekretärin, ohne ihr das Recht zuzubilligen, auf “unschuldig” zu plädieren. Thomas versucht später erfolglos, Carla zur Herausgabe des Videos zu nötigen, weil er sich als Opfer der Diebstähle sieht. Der stigmatisierte Sohn von Frau Kuhn (Oskar) möchte, dass man sich bei seiner Mutter entschuldigt und wirft selbst Carlas Laptop in den Fluss. Die Redaktion der Schülerzeitung will „die Wahrheit“ über die diktatorischen Methoden der Lehrerschaft „ans Licht bringen“, zeigt Carla aber nicht wie verabredet den Vorabdruck ihres Interviews. Ich könnte die Liste problemlos fortführen.

Die Protagonistin

Die junge Carla Nowak ist Mathematiklehrerin und lehrt – wie sie selbst bei einer Unterrichtseinheit über die Zahl 0,999… sagt, dass man für jede Annahme eine Herleitung braucht. Mit anderen Worten, einen nachprüfbaren Weg zu dem, was man dann als Lösung bzw. Wahrheit ansieht. 

Carla beginnt zu handeln, als Thomas und Vanessa sie wegen des denunzierten Schülers Ali ansprechen und klar wird, dass sie versuchen wollen, ihn mangels Beweisen über seine schlechten Zensuren loszuwerden. Sie tut das, was sie als Mathematiklehrerin auch ihren Schülerinnen und Schülern beibringt: Wie vor zweieinhalb tausend Jahren der von ihr zitierte Thales von Milet versucht sie, dem bloßen Glauben einen nachprüfbaren Beweis entgegenzusetzen. Im Gegensatz zu Thales scheitert sie allerdings, weil auf ihrem Video niemand eindeutig zu erkennen ist. 

Und das ist es, was Carla auch den gesamten Bogen des Films über tut: Sie kämpft gegen bloße Behauptungen und Menschen, die allzu bereit sind, zu glauben, was ihren Vorurteilen entspricht. Dem stellt Carla ihre (leider selbst fehlerhaften) Herleitungen entgegen.

So zum Beispiel, als Thomas ankündigt, rechtliche Schritte gegen Frau Kuhn zu unternehmen, weil er ja auch bestohlen wurde. Carla erklärt ihm, dass die Schulsekretärin nicht zwangsläufig auch ihn bestohlen haben muss, wenn sie es bei ihr gemacht hat. Mit anderen Worten: Carla macht Thomas klar, dass seine Herleitung fehlerhaft ist (wobei sie die Fehler seiner Grundannahme, nämlich ihrer eigenen Herleitung, unerwähnt lässt). 

Als der Schüler Lukas plötzlich in der Klasse behauptet, es wäre dort gefährlich, weil manche Eigenschaften von Mutter auf Sohn übertragen würden (womit er offenbar die beschuldigte Frau Kuhn und ihren Sohn Oskar meint), stellt sich Carla auch diesem gefährlichen Unsinn entgegen. 

Als Carla den reißerischen Artikel der Schülerzeitung liest, sagt sie den jungen Redakteurinnen und Redakteuren, sie könnten doch „nicht einfach etwas behaupten“. 

Carla kämpft im Grunde gegen die Irrationalität. Die meiste Zeit ist sie dabei allerdings erfolglos, weil sie selbst fehlerhafte Herleitungen erstellt, anderen ihre Ergebnisse „verordnet“ und zu entscheiden versucht, wie viel „Wahrheit“ wer erfahren soll - statt die anderen in den Prozess einzubeziehen.

„Die Wahrheit besiegt alle Ketten.“ Carla vor dem Motto der Schülerzeitungsredaktion. Foto: Alamode

Carlas Need

Da es nicht nur um die Protagonistin, sondern um die gesamte Gesellschaft der Schule geht, die Fehler im Umgang mit Wahrheit macht, ist Carlas persönliches Need anfangs nicht sehr präsent. Wir erfahren auch nicht von einem Trauma, das zu ihren Fehlern geführt hätte. Dennoch gibt es ein Bedürfnis der Figur, das sich in falschem Verhalten äußert und auch im Verlauf der Geschichte geheilt wird: Carla muss lernen, dass ihre Herleitungen nicht immer richtig sind. Und dass es nicht gut ist, anderen die „eigene Wahrheit“ aufzuoktroyieren oder selbstherrlich zu entscheiden, welchen Teil von ihr sie erfahren dürfen.

Eskalation / Auflösung / Aussage

Die Eskalation der Ereignisse, die bereits früh in der Geschichte beginnt, setzt sich im dritten Akt verstärkt fort: Nachdem Carla von Oskar den Laptop über den Kopf gezogen und von der Schülerzeitung die Worte im Mund verdreht bekommen hat, wird sie im Lehrerzimmer von Thomas und Vanessa hart angegangen. Wobei sie sich wieder gezwungen sieht zu lügen - diesmal, um Oskar zu beschützen. In der Klasse gibt es dann eine kurze Entspannung (was dramaturgisch richtig ist, denn Wechsel ist notwendig): Oskar ist nicht da und Carla führt eine befreiende Schreitherapie durch. Kurz darauf eskaliert die Lage aber wieder, als Oskar trotz Schulverbots die Klasse betritt.

Einen Höhepunkt der Eskalation im Sinne eines Wachs-oder-stirb-Moments, der Carlas Entwicklung zwingend (und auch nachvollziehbarer) machen würde, gibt es allerdings nicht. Und auch die Auflösung der Geschichte wird nur angedeutet: Carla schließt sich mit Oskar ein und setzt sich still neben ihn. Das erste Mal lässt sie jemanden einfach er selbst sein, ohne ihm ihre Wahrheit überzustülpen. Als Antwort schließt Oskar die Sortierung des Rubikwürfels ab, den Carla ihm in einer früheren Szene gegeben hatte. Ein Hinweis, dass er ihr Versöhnungsangebot annehmen möchte. Und auch ein Zeichen, dass die Rationalität Lösungen finden kann, wenn man einen klaren Kopf bewahrt und dem Gegenüber Raum lässt.

Bleibt noch die leicht surreale Schlusseinstellung, in der Oskar von zwei Polizisten wie ein König auf dem Thron aus der Schule getragen wird. Für mich überhöht sie die Geschichte in Richtung eines Märchens (oder einer Parabel) und gibt ihr damit etwas Besonderes, an das man sich erinnert. Sie sticht auch deshalb heraus, weil sie als einzige Szene einen gehörigen Schuss Ironie enthält. Über ihre Bedeutung lässt sich allerdings nur spekulieren. Beispielsweise, ob der Status als Opfer in unserer heutigen Gesellschaft so etwas wie eine Auszeichnung bedeuten kann. Oder ob einfach „die Wahrheit alle Fesseln besiegt?“ Belege aus dem Film heraus sind schwer zu finden. Daher belasse ich es dabei. Vielleicht ist diese Einstellung ja auch deshalb so interessant, weil sie eben nicht klar zu deuten, sprich herzuleiten ist.

Dass es keine Auflösung der Gesamtsituation gibt, werte ich nicht als Fehler, sondern als begründeten Teil des erzählerischen Konzepts. Wir befinden uns ja ebenfalls weiterhin in einer Gesellschaft, in der der Umgang mit Wahrheit zu wünschen übrig lässt. Eine Auflösung – selbst eine negative – würde eine geschlossene Form schaffen und damit das Gefühl vermitteln, dass jetzt wieder Ordnung (wenn auch die falsche) einkehrt. Stattdessen sollen wir als Publikum vielmehr selbst lernen, richtig mit der Wahrheit umzugehen, sprich sie überprüfbar herzuleiten und andere Menschen auf Augenhöhe mit einzubeziehen.

Fazit

DAS LEHRERZIMMER ist ein dichtes Lehrstück über ein aktuelles und gesellschaftlich relevantes Thema. Trotz der spröden und weitgehend humorfreien Figuren, dem Fehlen jeglichen Fun Factors und der allzu offensichtlichen Absicht, dem Publikum etwas beizubringen, ist es durchaus spannend geraten. 

Die zahlreichen Konflikte überzeugen mit starken Motivationen und klaren wertebasierten Haltungen der Figuren sowie stets präsenter Fallhöhe in Form von Gesichtsverlust im engen Mikrokosmos der Schulgemeinschaft. Damit schaffen sie es, die Zuschauerinnen und Zuschauer emotional zu fesseln, auch wenn es eher eine Prüfung als ein Vergnügen ist, sich den Film anzuschauen. 

Ein Erzählen in Metaphern oder überhaupt visuelles Erzählen findet nur in reduzierter Form statt, aber das ist bei einem deutschen Film und erst recht einem Kammerspiel keine Überraschung. Seine Stärken zeigt das Drama bei der Vermittlung des in immer neuen Varianten konflikthaft dargestellten Themas vom fehlerhaften Umgang mit der Wahrheit. Diese überaus konsequente Umsetzung ist sozusagen der USP und macht DAS LEHRERZIMMER zu einem durchaus herausragenden Werk.