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Desaster im Kollektiv: Dysfunktionale Kommunikation im Weltkino

Kann klassische Dramaturgie dem Erzählen von heute noch gerecht werden? Ein Blick auf den Oscar-Jahrgang 2024 legt nahe, dass es um mehr geht als nur die Reise des Helden.

Die alljährliche Verleihung der Oscars gilt als publicity-gesättigte Auszeichnung der ‚besten‘ Filme des Jahres. Ob diese Auswahl später vor den Kriterien der Filmgeschichte Bestand haben, wird sich zeigen. Viel eher sind Rankings als Momentaufnahmen zu betrachten: Die nominierten Filme dürften diejenigen sein, die mit der kollektiven Befindlichkeit der (Medien)-Welt augenblicklich am wirkungsvollsten in Resonanz treten. Wenn man aus deutscher Sicht dieses Jahr noch DAS LEHRERZIMMER und PERFECT DAYS mit hinzuzieht - kann – Filme, die es über den Umweg „Bester fremdsprachiger Film“ nach Los Angeles geschafft haben – bieten die diesjährig oscarnominierten Filme ein Panorama der Hoffnungen, Ängste und Fantasien der Gegenwart.

Nun könnte man sich diesen Umweg zunächst auch sparen. Denn es ist ohnehin klar, was uns beschäftigt: Die Konflikte in Nahost, in der Ukraine, Pandemien, Spaltungstendenzen, antidemokratische Tendenzen, Flüchtlingsdramen, aggressive Übergriffe … you name it. Überall Spannung, Hass, Gewalt. Überwölbt wird dieses Szenario durch das Horrorthema schlechthin: die Klimakatastrophe mit der drohenden Selbstzerstörung der Spezies Mensch. Dieser mögliche globale Suizid grundiert das Erleben der ganzen Welt und gibt die Hintergrundfolie für alles ab, was gegenwärtig gedacht, geschrieben, geträumt, aber eben auch filmisch produziert wird.

Wenn man sich nun fragt, ob es zwischen den oscarnominierten Filmen und diesen aktuellen Themen direkte Verbindungen gibt, lautet die Antwort: Nein. Keiner nimmt unmittelbar Bezug auf konkrete Probleme.

Doch betrachtet man die Voraussetzungen, die erfüllt werden müssten, um die Katastrophe abzuwenden, ergibt sich ein anderes Bild. Um nämlich dem möglichen Suizid auf allen Ebenen zu entkommen, wäre es überall auf der Welt nötig, zu KOMMUNIZIEREN, also Gemeinsamkeit herzustellen. Verzicht auf Krieg und Gewalt, Verringerung der Emissionen, Schonung von Ressourcen – all das fordert eigentlich einen globalen Konsens, ein Aufeinandereingehen aller nationalen, religiösen und politischen Gruppen auf alle.

Wenn man sich nun fragt, ob es zwischen den oscarnominierten Filmen und diesen aktuellen Themen direkte Verbindungen gibt, lautet die Antwort: Nein. Keiner nimmt unmittelbar Bezug auf konkrete Probleme.

Es ist offensichtlich, dass dies nicht passiert. Ganz im Gegenteil. Die Bereitschaft zum Zuhören nimmt ab, überall – politisch, gesellschaftlich, individuell. Wir begegnen hier einer einem ‚human factor‘, der sich als fatal erweisen könnte, nämlich der Tendenz, im Anblick nötiger Entscheidung genau das Gegenteil des Angeratenen zu tun. Auf der individuellen Ebene ist uns allen der Mechanismus nur zu vertraut. Wer seine Gewohnheiten ändern müsste, verweigert eben gerade dies: ‚… morgen hör ich auf ...‘! Die Menschheit als Ganze verhält sich aber offenbar genauso.

Und an diesem Punkt kommen wir wieder zu den oscarnominierten Filmen. Denn die Gemeinsamkeit auffällig vieler dieser Werke liegt in der Schilderung dysfunktionaler Kommunikation. Abgesehen vom Film MAESTRO, einem eher konventionellen Biopic, das wenige Reflexe einer gegenwärtigen Befindlichkeit bietet, leisten alle der hier genannten Filme ihren Beitrag zu diesem groß angelegten Panorama in Sachen verfehlter Kommunikation.

Mit KILLERS OF THE FLOWER MOON sind wir schon mittendrin. Zwei große Kollektive stehen einander gegenüber: Hier die nativen indigenen Ureinwohner Amerikas, denen der Fund von Öl auf dem eigenen Land große Reichtümer beschert, dort die ‚Weißen‘, die gierig nach eigenem Gewinn Gewalt und Verrat in Anwendung bringen. Als Gelenk zwischen beiden Welten fungiert eine Ehe. Sie beruht auf wahrer Liebe, zweifellos. Aber der Ehemann spricht nicht mit seiner Frau, weshalb Lüge und Verrat im Kern dieser Beziehung nicht größer und tödlicher sein könnten. Das vermeintlich erhabenste Humanum an sich – die Liebe – schützt die Hauptfigur nicht vor Habgier und Mord an den Angehörigen seiner Frau.

Krasse Misskommunikation ist auch in ANATOMIE EINES FALLS der zentrale Erzählgegenstand. Nicht nur hat der quälend ausführliche Streit eines künstlerisch ambitionierten, aber unterschiedlich erfolgreichen Ehepaars schon jetzt fast Kultstatus erlangt – diese lange Szene einer Selbstzerfleischung zweier Autoren hat das Zeug, es mit Klassikern wie SZENEN EINER EHE oder WER HAT ANGST VOR VIRGINIA WOOLF? aufzunehmen. Doch Misskommunikation steht auch im Vordergrund, wenn hier im Gerichtssaal ein möglicher Mord verhandelt wird. Es herrscht ein toxisches Maß an Nicht-Verständigung, Verdächtigungen, Mutmaßungen, Unversöhnlichkeiten. Indem in ANATOMIE EINES FALLS angesichts der Zerstrittenheit aller mit allen kein abschließendes Urteil möglich ist – War es Mord? Selbstmord? Ein Unfall? – bleibt dieser Eindruck des Sich-Verfehlens prominent hängen.

Über DAS LEHRERZIMMER lässt sich Ähnliches sagen. Mitunter wurde gerätselt, warum gerade dieser karge Film, der auf vieles verzichtet, was die Story ‚emotionaler‘ hätte werden lassen können, eine solche Weltkarriere hinlegen kann. Doch in der Konzentration auf die Schilderung von kollektiver Nicht-Kommunikation in einem geschlossenen System trifft DAS LEHRERZIMMER offensichtlich einen Nerv. Ausgehend von einem möglichen Diebstahl überzieht sich hier eine Gruppe von Menschen mit Verdächtigungen, Vorwürfen, Halbwahrheiten, falschen Implikationen. Sie wären leicht aus der Welt zu schaffen, wenn sich die beteiligten Figuren mit dem Gegenüber vertrauensvoll und ergebnisoffen einlassen würden. Dies aber unterbleibt. Und so lässt sich irgendwann auch wieder nicht mehr klären, was denn nun die ‚Wahrheit‘ und wer der/die Täter*in war. Über den Austausch unversöhnlicher Standpunkte geht die Verständigung nicht hinaus. Diesem aus den sozialen Medien bestens bekannten Grundgefühl verleiht DAS LEHRERZIMMER Ausdruck – und die Öffentlichkeit nimmt diese Spiegelung offensichtlich dankbar auf.

Doch in der Konzentration auf die Schilderung von kollektiver Nicht-Kommunikation in einem geschlossenen System trifft DAS LEHRERZIMMER offensichtlich einen Nerv.

AMERICAN FICTION treibt das Motiv der Misskommunikation auf das heute besonders virulente Feld des ‚Fakes‘. Ein erfolgloser schwarzer Schriftsteller erfindet sich neu, indem er unter falschem Namen literarisch platte Klischees über seine Community bedient, die ihm Erfolg, aber auch eine Lawine an Lügen und Hass auf sich selbst einbringen. Zurück bleibt das Bild, dass Weiße und Schwarze unmöglich kommunizieren können, weil wahre Bedürfnisse ewig in Klischees hängen bleiben.

In THE ZONE OF INTEREST wird die Misskommunikation noch auf eine höhere Ebene verschoben. Die Familie des Kommandanten eines KZs existiert weitgehend konfliktfrei in einem unbeeinträchtigten Idyll. Einzig die Konfrontation mit dem unsäglichen Massenmord, der in unmittelbarer Nachbarschaft visuell und akustisch angedeutet wird, verleiht dem Film seine Spannung. Es wäre den Figuren sehr leicht möglich, über den Grenzzaun und damit in den Abgrund der Befindlichkeit von Menschen in Todesangst zu schauen. Aber das unterbleibt. Im Mittelpunkt steht die spezifisch menschliche Fähigkeit, auf Millionen grausam abgeschlachteter Menschen keinen Gedanken zu verschwenden. Man kann aber dieses Verhalten ohne weiteres auf die gegenwärtige westliche Welt übertragen. Auch im Mittelmeer sterben täglich viele Menschen, und wir ignorieren das. Insofern hält THE ZONE OF INTEREST nicht nur den Nazis, sondern auch uns allen einen Spiegel vor. Eine vergleichsweise sehr große Zahl von Zuschauer/innen dieses schwierigen Kunstfilms reagiert auf diese unterschwellige Selbstreflexion mit Interesse und diversen Auszeichnungen.

Man kann nun entlastenderweise auf die Filme deuten, die in der Reihe der oscarnominierten Filme auch unterhaltsame Selbstbefreiungsmythen beschreiben. Ja, das kann man – muss aber konstatieren, dass diese eher konventionellen Heldenreisen Avataren vorbehalten sind, Kunstfiguren, wie im Fall von BARBIE einer Puppe oder im Fall von POOR THINGS einem Homunkulus, der aus der Kombination von Hirn und Körper zweier unterschiedlicher Wesen entstanden ist. Die teils bizarren, teils ironischen Schilderungen individueller Selbstbefreiung betreffen daher nur künstliche Wesen. Normal menschlichen Filmhelden scheint dieser Weg zur Selbstbestimmung nicht (mehr?) zugestanden zu werden. Es drängt sich der Gedanke auf, dass die Kunstfiguren die besseren, weil vom vertrackten ‚human factor‘ unberührten Menschen sind. Sie können als Blaupausen für eine evolutionäre Weiterentwicklung gesehen werden, nach der sich die Menschheit sehnt, die sie sich selbst aber nicht zutraut.

Und dann sind da natürlich auch noch die zarten, intimen Stories, in denen tatsächlich Kommunikation gelingt: Filme wie THE HOLDOVERS, PAST LIVES oder PERFECT DAYS. In der Tat. Hier erleben wir, dass Verständigung schwierig, aber möglich ist. In all diesen sensiblen Filmen geht es letztlich darum, auf Vorwürfe, Selbstrechtfertigungen, dem Beharren auf eigenen Standpunkten zugunsten des Gegenübers zu verzichten. Man muss aber sehen, dass es sich um rein private Beziehungsgeschichten handelt. Größere soziale oder politische Dimensionen bleiben ausgespart. Dass Individuen sich durchaus zurücknehmen und verhärtete Standpunkte revidieren können, weiß man. Aber Kollektive?

Kommen wir nun zum eigentlichen Kernstück unserer Überlegungen, dem Oscargewinner 2024. Der Film demonstriert die kollektive Befindlichkeit der Gegenwart vielleicht am direktesten. OPPENHEIMER überschreibt eine konventionelle Heldenreise – ein hochbegabter Wissenschaftler erschafft mit einer Armada von Gleichgesinnten eine Wunderwaffe, die einen schrecklichen Krieg schlagartig beendet – mit der systemischen Auseinandersetzung darüber, was mit dieser Waffe zu geschehen hat.

OPPENHEIMER überschreibt eine konventionelle Heldenreise – ein hochbegabter Wissenschaftler erschafft [...] eine Wunderwaffe [...] – mit der systemischen Auseinandersetzung darüber, was mit dieser Waffe zu geschehen hat.

Die Hauptfigur sieht sich durch ihr eigenes Werk mit der möglichen Selbstauslöschung der Menschheit konfrontiert, und dem Publikum des Films geht es natürlich nicht anders. OPPENHEIMER ist die unmittelbare Reflexion auf die Situation, in der wir uns befinden. Angesichts der Atombombe (auf heute übertragen: der Klimakatastrophe) fordert die Hauptfigur eine kollektive, weltweite Verständigung hinsichtlich der Frage, wie die Menschheit damit verfahren soll. Voraussetzung wäre natürlich globale Kommunikation, ein sich Zuhören und Verzicht auf dem Beharren des eigenen Standpunkts. Genau dieser Wunsch aber wird der Hauptfigur von einem akribisch erzählten (von vielen Kritikern als ‚unvisuell‘ oder ‚zu kammerspielartig‘ kritisierten) Tribunal verwehrt. Oppenheimers dringender Appell zur weltweiten Kooperation wird unterdrückt, er selbst als Unbequemer, weil fürs Gegenüber Offener aus dem System eliminiert. Übrig bleiben die üblichen fatal tödlichen Eigeninteressen, mit denen Kollektive in der Geschichte ihre Nachbarn schon immer überzogen haben und es auch heute mehr denn je tun.

Das ist nun haargenau die heutige Situation, nur historisch um 70 Jahre nach vorn versetzt. OPPENHEIMER ist vielleicht nur deshalb der ‚beste‘ Film des Jahres 2024, weil er die Gegenwart mit der detailgetreuesten Spiegelung ihrer eigenen Situation konfrontiert.

Nimmt man nun alles zusammen, stellt sich die Gegenwart angesichts der hier besprochenen Filme selbst ein verheerendes Zeugnis aus. Man könnte aber auch sagen, dass sich durch alle Motive dieser Betrachtung die Sehnsucht nach Erlösung von der eigenen Verfasstheit zeigt. Das spezifisch Humane, auf das man jahrtausendelang stolz war, erweist sich heute als das Verderbliche, von dem man gern befreit wäre. Die Voraussetzung für die Abwendung der Selbstauslöschung – nämlich kollektive Kommunikation aller mit allen - ist, Stand: jetzt, offenbar nicht vorstellbar. Aber immerhin weisen die genannten Filme auf dieses Defizit in seltener Konsequenz hin. Und wenn es der Kunst auch nicht möglich ist, zu zeigen, wie die Welt besser wäre, vermag sie doch wenigstens auf das hinzuweisen, was fehlt.

Vermutlich wird es in Zukunft sogar noch mehr darauf ankommen, Geschichten zu finden, die hinsichtlich ihrer verborgenen Resonanzfähigkeit möglichst stark mit dem Zeitgeist korrespondieren.

Was bedeutet dies aber jenseits der dystopischen Implikationen für die konkrete dramaturgische Arbeit? Schließlich leben wir in einer Zeit, in der auch durch den Einsatz künstlicher Intelligenz das spezifisch Menschliche ohnehin zunehmend infrage gestellt wird … Vermutlich wird es in Zukunft sogar noch mehr darauf ankommen, Geschichten zu finden, die hinsichtlich ihrer verborgenen Resonanzfähigkeit möglichst stark mit dem Zeitgeist korrespondieren. Die Relevanz von Filmen und Serien könnte zukünftig weniger auf gelungenen Backstories, komplexen Figuren oder sauber gesetzten Wendepunkten beruhen als auf einem untergründigen Feedback zwischen Erzählidee und der kollektiven Befindlichkeit der Welt. Wichtig sind in Zukunft vielleicht weniger die individuellen vergangenen Traumata der Hauptfiguren. Uns nämlich beschäftigen die kollektiven Traumata, die in der Zukunft liegen.

Wesentlich scheint mehr denn je die Auseinandersetzung mit dem, was heute ALLE Menschen unbewusst beschäftigt, quält und zugleich fasziniert. Mindestens den hier besprochenen Filmen ist es gelungen, die (westliche) Welt an ihren empfindlichsten Nerven zu treffen. Dass darunter zwei Filme aus Deutschland waren, sollte für die hiesige Landschaft eine Auszeichnung, aber auch Aufforderung sein. Der Weg dürfte weg von der rein privaten Beschreibung individueller Befindlichkeiten hin zu kollektiven Themen führen, die, wenn auch untergründig und indirekt, die Menschen in Atem halten. Solange man das im Auge behält, sollte einem trotz aller Dystopien wenigstens hinsichtlich des Kinos nicht bang sein.