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Die Psychologie der Bösen

Antagonist*in vs. Schurke* vs. Anti-Schurke*

Anmerkung: Die Schreibweise „Schurke*“ und „Anti-Schurke*“ wurde gewählt, da es sich im Kontext des Beitrags um Archetype handelt und schließt selbstverständlich alle Geschlechter mit ein.

Erstellt mit KI

Dezember 2007, kurz vor Mitternacht. Das Haus lag still und dunkel. Nur ein schwaches, flackerndes Licht beleuchtete das Gesicht des Jungen, der regungslos auf dem Boden saß. Das kalte Blau des Bildschirms spiegelte sich in seinen weit aufgerissenen Augen. Sein Herz raste, seine Hände feucht, die Knie zitterten. Leichenblass starrte er auf das Ergebnis seiner Neugier – eine Dummheit, die jetzt ein Eigenleben zu führen schien. Eiskalte Panik breitete sich in ihm aus, die drückende Stille im Haus drohte ihn zu ersticken. Er hatte das Gefühl, die Dunkelheit würde immer tiefer werden, würde ihn verschlucken. Und ein unheimliches, vertrautes Gesicht schob sich ihm wie ein Trugbild ins Gedächtnis. Etwas Böses, eine Figur, die er lieber nicht ins Leben gerufen hätte. Er schrie – ein schriller, markerschütternder Laut, der seine Eltern aus dem Bett rief und ins Wohnzimmer stürmen ließ…

Das ist meine erste Erfahrung mit THE SHINING und Jack Torrance. Keine gute Idee. So im Nachhinein. Davor dachte ich: Cool. Was soll ich sagen: Kind halt.

Jack Torrance ist ein klassischer Antagonist. Er steht in einer langen Reihe an bekannten Gegenspieler*innen: Sauron, Darth Vader, Maleficent oder neuere Persönlichkeiten wie Marvels Thanos, Zweifel in ALLES STEHT KOPF 2 oder Ken aus BARBIE. Doch wie ordnen wir sie ein? Ist Ken ein Bösewicht wie Cruella de Vil? Ist die Mutterfigur aus TANGLED genauso böse wie Onkel Scar? Und wie steht es eigentlich mit dem Vater der Atombombe Oppenheimer? Sind sie alle Schurk*innen oder eher Anti-Schurk*innen? Oder gar Anti-Held*innen? Und sind sie zwangsläufig Antagonist*innen?

Um die Psychologie der Bösen zu verstehen, müssen wir versuchen, die Archetypen Schurke* und Anti-Schurke* zu definieren. Wir können es nur versuchen, da wir uns im Raum der Kreativität und Imagination bewegen und somit eine fixe Zuordnung von Merkmalen nicht möglich ist. Es gibt schließlich Dutzende Mischformen, je nach Sichtweise und kreativen Filter jeder/jedes Einzelnen von uns.

 

Der Klassische Schurke*

Wir alle kennen ihn. Wir spannen uns an, sobald er die Bildfläche betritt und unsere Emotionen schwanken. Die Musik wechselt ins Moll oder disharmonische. Wenn er auftritt, ist eins sicher: Alles steht auf dem Spiel, hier gibt es kein Erbarmen. Seine Motivation und Taten sind geprägt von Bosheit, sein Verhalten verstößt gegen juristische oder moralische Wertvorstellungen. Sein übergeordnetes Ziel ist die konträr gerichtete Haltung in Bezug auf den/die Protagonist*in. Er durchlebt keine bzw. wenig Entwicklung, darf auf keine Erlösung hoffen und die Lösung des Problems ist meistens der Tod. Die Geschichte ist geprägt von Schwarz-Weiß-Denken. Komplexe Background-Geschichten sind zumeist nicht vorhanden oder nur rudimentär skizziert. Eindrückliche Beispiele sind: Der Imperator, Sauron, Scar, so gut wie alle Filmmonster & Horrorfilm-Antagonist*innen. Sie sind böse, sie bleiben böse, sie sterben böse. Die Geschichten um diesen Archetyp bedienen sich einer meist einfachen Weltanschauung: Es gibt eine eindeutige Moral. Weiß für Held*innen, schwarz für Schurken*. Und der Kampf um den Sieg ist die Klimax der Handlung.

Der Anti-Schurke*

Während der Schurke* wie beschrieben meist eindimensional und kausal agiert, besitzt der Anti-Schurke* eine deutlich ausgefeiltere Backstory mit emotionaler Verwundung, einem daraus entstandenen unentdecktem Trauma sowie einer grauen Moral. Es gibt nicht den einen Archetyp. Es sind diverse Mischformen zu unterscheiden, wie folgende Beispiele verdeutlichen:

„Das richtige Ziel mit den falschen Mitteln“ 

Thanos, der der galaktischen Bevölkerung ein besseres Leben ermöglichen möchte, indem er 50% derselben auslöscht, und somit mehr Ressourcen für die Überlebenden zur Verfügung stehen.

„Das falsche Ziel aus ehrbaren Gründen“ 

Vulture aka Adrian Toomes aus SPIDERMAN: HOMECOMING versucht seine Familie finanziell abzusichern, nachdem sein Bauunternehmen durch staatliche Eingriffe in den Ruin getrieben wurde. Um das zu erreichen, beginnt er, gefährliche Waffen aus Alien-Technologie herzustellen und auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen – ein fataler Weg, der Unschuldige in Lebensgefahr bringt.   

 „Der in die Irre geführte Held“ 

Gerade dieser bietet ein spannendes Beispiel. Wurde er oft als der Filmbösewicht schlechthin charakterisiert, so ist Darth Vader eigentlich kein Schurke*, sondern ein Anti-Schurke*. Schauen wir uns seine Entwicklung an: Darth Vader durchläuft drei Stufen. Zu trennen sind Prequel und Originalreihe, da seine ausführliche Backstory (Teil 1-3) erst nach dem Erfolg der Trilogie 4-6 hinzugefügt wurde. In Teil 1 und 2 bedient Anakin/Darth Vader klassisch das Rollenbild eines Helden. Er steht für das Gute, bekämpft das Böse und siegt. In Teil 3 wird er allmählich zum Anti-Helden*, dem Pendant des Anti-Schurken*. Den genauen Unterschied zwischen diesen Archetypen betrachten wir im Folgeartikel „Die Psychologie der Guten“. Mit der originalen Trilogie 4-6 wird Darth Vader schließlich vollends von der dunklen Seite der Macht indoktriniert. Er beteiligt sich an den Verbrechen des Imperiums und verbreitet Terror und Schrecken.

Ist er damit nicht der Schurke*? Ganz klar: Nein. Im Moment der Wahrheit, der Klimax dieses Epos, in Episode 6 siegt das Gute in ihm, er opfert sich für unseren Helden Luke (Zweck), besiegt den Imperator (der eigentliche Bösewicht) und rettet die Galaxie (Ziel). Und auch hier sehen wir wieder: All die Jahre folgte auch er dem richtigen Ziel (Frieden in die Galaxie zu bringen), allerdings mit falschen Mitteln (Unterdrückung und Diktatur). Doch diesen Blick durch das Fenster in seine Seele erhaschen wir erst spät, kurz vor Ende der Reihe.

Zum Vergleich: Angesprochener Imperator handelt exakt nach Schurken*-Schema – tritt böse auf, handelt böse und stirbt (zumindest zum Zeitpunkt vor den Sequels 7-9) böse. Doch auch die Prequels und Sequels geben wenig bis keine Einordnung. Er ist getrieben von Machthunger und Herrschaft. Doch wie ist das entstanden? Keine Informationen. Ein wichtiger Leitsatz des Anti-Schurken ist, dass er weder eindeutig böse noch eindeutig gut ist. Dies hat sich in den vergangenen Jahrzehnten immer weiter verstärkt und entwickelt.

Auch in der deutschen Serien- und Filmwelt gibt es beeindruckende Beispiele für Antagonist*innen, deren komplexe Charakterzüge und Ambivalenzen tiefe Einblicke in die dunklen Seiten der Psyche geben. Ein gutes Beispiel ist Noah aus der Netflix-Serie DARK, der als manipulativer Priester das Schicksal einer gesamten Kleinstadt und ihrer Zeitlinien bestimmt, um die Zyklen seiner Familiengeschichte zu durchbrechen. Noah verkörpert den Anti-Schurken*, denn seine Handlungen entspringen einem verzweifelten Streben nach Erlösung durch einen geschlossenen Zeit-Zyklus – ein Ziel, das vermeintlich zum Wohle aller dient, obwohl er es mit brutalen Mitteln verfolgt. Er verfolgt ein nachvollziehbares, wenn auch gefährliches Ziel, das in seiner Tragik und Opferbereitschaft fast an klassische Heldenfiguren erinnert. Seine Bereitschaft, das Leben und Schicksal anderer zu opfern, um seine eigene Vision von Richtig und Falsch zu verwirklichen, erzeugt eine moralische Grauzone, die dem Publikum kaum Ruhe lässt und fasziniert wie abstößt.

Der Trend von berechenbaren Schurken* zu komplexen Anti-Schurken* mit stringentem Hintergrund, emotionaler Verwundung und eigenem Charakterbogen hat seit der 00er Jahre massiv an Bedeutung und Relevanz über alle Formen der Geschichtenerzählung gewonnen. Und dafür gibt es einen guten Grund: aus dem Archetyp Schurke* ist ein Stereotyp geworden. Denn geben wir einem singulären Archetyp (siehe Elf Archetypen nach Albrecht Behmel) keine individuelle Handschrift und beleuchten ihn stattdessen mit einfarbigem Licht, nutzen eine Schablone und füllen ihn mit erwartbaren Handlungsmustern, resultiert zwangsläufig genau das: Stereotype, die Langeweile bedeuten.

Darum sollte der Archetyp eine Figur nur skizzieren und unter ihrer konkreten Erscheinung verborgen bleiben. Denn Langeweile bedeutet geringe Abrufzahlen, niedriges Box-Office, schlechter Return of Invest. Grund genug die aktuelle Franchise-Maximierung auch unter diesem Blickpunkt zu beleuchten, schließlich macht dieser Trend auch vor großen IPs nicht Halt. Viele Major Studios geben ihren ehemals eindimensionalen Bösewicht*innen nun bedeutsame Prequels, die den Werdegang auf psychologischer Ebene erklären oder Sequels, die einen neuen Weg der Läuterung aufzeigen. Zu nennen ist hier unter anderem KING KONG VS. GODZILLA, ein erfolgreiches Franchise, in dem der ehemalige Bösewicht King Kong nun als Anti-Held* die Welt vor Godzilla bewahrt. JOKER, ein Noir-Film mit Joaquin Phoenix, nimmt uns in dessen traurig-traumatische Vergangenheit mit. Die Serie HERR DER RINGE: RINGE DER MACHT erklärt das eigentlich ultimative Böse, Sauron. Und THE HUNGER GAMES – THE BALLAD OF SONGBIRDS AND SNAKES erklärt beinah psychologisiert die spätere Manie des Präsidenten Snow in der HUNGER GAMES-Reihe. Es wirkt, als wollten wir Zuschauer*innen nach Jahrzehnten der Verlässlichkeit à la „Die Figur ist böse und bleibt böse“ nun emotionale Reisen und nahbare Charakterzüge in unseren Lieblingsschurk*innen sehen.

Doch warum ist das so? Faszinierenderweise gibt es in der Psychologie deutliche Parallelen zu den gutartigen Identifikationsfiguren aka Held*innen.

Oftmals bezeichnen wir Antagonist*innen als böse. Doch wann wird jemand als „böse“ wahrgenommen? Oft empfinden wir Handlungen als böse, wenn sie ungerecht oder unangemessen erscheinen und wir keinen verständlichen, nachvollziehbaren Grund dafür finden. Handelt demnach ein böser Charakter aus purer Böswilligkeit? Jein. Die Klassifizierung von Menschen als „böse“ beruht häufig auf einer Wissenslücke. Aber warum geschieht das? Wir haben ein starkes Bedürfnis nach Kontrolle und Orientierung, was uns dazu führt, komplexe Informationen in überschaubare Kategorien zu unterteilen. Diese Vereinfachung spart Zeit und Energie. Wenn wir die Beweggründe einer Person nicht nachvollziehen können – sei es aufgrund unterschiedlicher Werte oder fehlender Kontextinformationen – geraten wir in Verwirrung. Unser Gehirn hat Schwierigkeiten, unerklärliches Verhalten zu akzeptieren, und sortiert es daher in die Schublade „Schlecht oder Böse“ ein.

Unser Drang, menschliches Verhalten zu begreifen, führt dazu, dass die inneren Konflikte von Antagonist*innen und Schurken* unser Bedürfnis nach Kontrolle und Orientierung ansprechen. Diese Darstellung weckt nicht nur Neugier, sondern lässt uns auch eine Verbindung zu diesen Charakteren aufbauen. Dabei sind nicht nur strahlenden Heldenfiguren von Interesse; auch dunkle Charaktere wie Serienkiller*innen und Psychopath*innen fesseln uns durch ihre ungewöhnlichen Denk- und Verhaltensweisen.

In der Psychologie wird diese Neigung, sich für grausames Verhalten zu interessieren, als „morbide Neugier“ bezeichnet und hat tiefere evolutionspsychologische Wurzeln:

Schon seit vielen Jahrzehnten ist klar, dass wir Geschichten als eine Art Flugsimulator nutzen. Unser Gehirn ist darauf ausgelegt, Gefahren zu erkennen und sich darauf vorzubereiten. Morbide Neugier tritt häufig bei Menschen auf, die die Welt als bedrohlich empfinden. Studien zeigen, dass insbesondere Frauen ein starkes Interesse an Themen wie Serienkiller*innen, Psychothrillern und „True Crime“ haben, da diese überproportional oft Opfer von Verbrechen werden. Die Beschäftigung mit Gewalt und den Täter*innen in einem geschützten Umfeld ermöglicht es uns, Warnsignale zu identifizieren. So sind wir besser gerüstet, um in realen Gefahrensituationen zu reagieren und gefährliche Personen anhand ihrer Verhaltensweisen oder Charakterzüge zu erkennen.

Ein weiterer Faktor, der zur Faszination für Bösewicht*innen beiträgt, ist die Möglichkeit zur Identifikation. Eine dänische Forschungsgruppe hat herausgefunden, dass Menschen, die selbst Eigenschaften aufweisen, die als normativ böse gelten, eine positive Einstellung zu Antagonist*innen haben. Diese Personen erkennen unbewusst eigene Merkmale in den Bösewichten und empfinden daher eine gewisse Bewunderung. Deutlich vereinfacht gesagt: Je mehr „böse“ Züge in einem selbst vorhanden sind, desto größer ist die Anziehung zu anderen Bösewicht*innen.

Diese Faszination für dunklere Aspekte unserer selbst in Geschichten bleibt bestehen, obwohl wir in der realen Welt oft von Menschen mit unmoralischem oder instabilem Verhalten abgestoßen sind. Der Grund hierfür ist, dass fiktionale Geschichten in Filmen und anderen Medien als kognitives Sicherheitsnetz fungieren. Sie ermöglichen es uns, uns mit schurkischen Charakteren zu identifizieren, ohne unser eigenes Selbstbild zu gefährden. Klar ist, dass Menschen sich selbst in einem positiven Licht sehen möchten. Ähnlichkeiten zu einem „schlechten“ Charakter zu entdecken, kann unangenehm sein. Die Einbettung des/der Bösewicht*in in einen fiktiven Rahmen kann dieses Unbehagen lindern und sogar umkehren, denn die Trennung von der Realität hilft, unangenehme Gefühle zu mildern.

„Wenn der Vergleich nicht mehr belastend ist, gibt es etwas Verlockendes daran, Ähnlichkeiten mit einem/r Filmbösewicht*in zu erkennen“, erläutert der Co-Autor der dänischen Studie Derek D. Rucker.

Beispielsweise könnten sich Menschen, die sich selbst als verschlagen oder chaotisch empfinden, besonders zu Figuren wie dem Joker aus den BATMAN-Filmen hingezogen fühlen. Im Gegensatz dazu könnte jemand, der sich mit Lord Voldemorts Intellekt und Ehrgeiz identifiziert, eine stärkere Verbindung zu dieser Figur in den HARRY POTTER-Filmen spüren. Um diese Hypothese zu überprüfen, analysierten die Forschungsgrupp Daten von etwa 232.500 Personen. Diese hatten auf dem Portal charactour.com an einem Persönlichkeitstest teilgenommen sich selbst dabei mit 3.962 verschiedenen Charakteren verglichen, sowohl Bösewicht*innen als auch Held*innen. Zu ersteren zählten Figuren wie Maleficent, der Joker und Darth Vader, während letztere unter anderem Sherlock Holmes, Hermione Granger, Katniss Everdeen und Yoda umfassten.

Durch die anonymen Daten konnten die Forschungsgruppe untersuchen, ob Menschen sich von ähnlichen Bösewicht*innen angezogen oder abgestoßen fühlten. Es war nicht überraschend, dass die Teilnehmenden sich mehr zu Nicht-Bösewicht*innen hingezogen fühlten, je mehr sie sich mit diesen identifizieren konnten. Interessanterweise zeigten die Ergebnisse auch, dass die Befragten eine stärkere Anziehung zu Bösewicht*innen verspüren, die ihnen ähnlich waren. Die Forschungsgruppe glaubt, dass Ähnlichkeiten mit fiktiven Antagonist*innen das Selbstbild nicht in der gleichen Weise gefährden, wie es bei realen Bösewicht*innen der Fall wäre. Angesichts der weit verbreiteten Erkenntnisse, dass Menschen sich unwohl fühlen und reale Personen meiden, die ihnen ähnlich sind und negativ konnotiert werden, war die Forschungsgruppe überrascht von den psychologischen Ergebnissen. Diese zeigen, dass Menschen tatsächlich eine Vorliebe für Bösewicht*innen entwickeln, die ihnen ähnlich sind, im Vergleich zu solchen, die stark von ihnen abweichen.

Zusammengefasst: Zum einen identifizieren wir uns auch mit dem Bösen, solange es nicht unser Selbstbild beschädigt, zum anderen ist es ähnlich einem Flugsimulator, in dem wir uns auf das vorbereiten, was passieren könnte.

Nun wissen wir, warum wir nicht nur tolle, sondern großartige Schurken* benötigen. Sie verleihen unserer Erzählung die gleiche Tiefe und Identifikationsfläche auf konträrer Seite wie unsere Heldenfiguren. Ist eine von beiden Figuren blass, so wird auch die Geschichte farblos.

Aber eine Frage ist noch unbeantwortet: Ist ein Anti-Schurke* zwangsläufig ein/e Antagonist*in? Klare Antwort: Nein.

Grundlegend sind die Haltung und somit die Ziele wichtig für die Definition. Der/Die Antagonist*in ist die Figur, die sich der Förderung der Hauptziele der Handlung einer Geschichte widersetzt und somit den Zielen des/der Protagonist*in. Es kommt also auch auf die eindeutigen Taten der jeweiligen Figur und die Definitionstiefe an. Man könnte zusätzlich noch die Begriffe „Feind*in“ und „Gegenspieler*in“ etablieren. Während Schurken* das absolut Böse darstellen, finden sich in beiden Begriffen weniger dramatische Ziele. So ist zum Beispiel Saruman ein Feind von Gandalf und der Reisegruppe rund um Frodo, aber nicht der Antagonist aus HERR DER RINGE. Und Boromir wird, obwohl er selbst der Heldengruppe entspringt, gegen Ende des ersten Teils zum Gegenspieler von Frodo. Auch Faramir und sein Vater Denethor sind Gegenspieler, obwohl Denethor kein Antagonist der übergeordneten Handlung ist. Der Übergang ist also fließend und eine wahre Trennschärfe herzustellen kaum möglich. Aber jeder dieser Charaktere sorgt für einen weiteren Antrieb der Handlung, des Protagonisten oder von Nebenfiguren.

Bevor wir uns im Folgeartikel den Held*innen widmen, die den Mut haben, sich den Antagonist*innen in den Weg zu stellen, drehen wir den Blickwinkel noch einmal scharf um. Denn aus der Perspektive des Bösen wird die Helden- plötzlich zu einer Störfigur, einem Hindernis im ganz persönlichen Lebensplan.

Stellen wir uns vor: Der/Die Bösewicht*in hat eigene Ziele, Pläne, vielleicht sogar Ideale. Und dann erscheint der/die Held*in – ein Eindringling, der den sorgfältig gelegten Pfad zerstört, sich über alle Regeln hinwegsetzt und sich wie eine Plage durch die hart erarbeitete Vision des/der Antagonist*in kämpft. Er rückt ihm/ihr auf die Pelle, bringt seine treuesten Anhänger gegen ihn/sie auf und riskiert alles, nur um „das Böse“ zu bekämpfen. Doch wer bestimmt hier eigentlich, was gut und böse ist?

Der/Die Held*in wird für den/die Antagonist*in zur Nemesis, eine Art persönlicher Fluch – und vielleicht ist es genau dieser Umstand, der den/ die Antagonist*in dazu treibt, immer weiterzumachen, immer radikaler zu werden. Denn in seiner Sichtweise wird die Heldenfigur selbst zum Bösewicht, zum Widersacher, der ihm das Leben und seine Pläne zerstört.

Ein radikaler Gedanke, oder? Wenn wir als Autor*innen wirklich nachvollziehbare Antagonist*innen erschaffen wollen, dann müssen wir uns erlauben, in diesen Perspektivwechsel einzutauchen, dann dürfen wir genau diesen Blickwinkel nicht vergessen.

Denn in jedem packenden Konflikt ist der/die Held*in für den/die Bösewicht*in das, was der/die Bösewicht*in für den/die Held*in ist: die Bedrohung.

Teaser Teil 2

Im Folgeartikel tauchen wir in eben jene Welt der „Guten“ ein – Held*innen, die wir so oft bewundern, deren Moral und Motivation aber nicht weniger komplex sind als die ihrer Gegenspieler*innen. Denn warum sind sie manchmal weniger heldenhaft, als sie selbst glauben?

Protagonist*in - Held* - Anti-Held*. Alles eine Frage der Perspektive.