Mädchen von nebenan, Femme Fatale, Heimchen am Herd – die Stereotypen im medialen Frauenbild sind weithin bekannt. Viel wird diskutiert, wie man Frauenrollen vielschichtiger gestalten kann. Dabei ist häufig von „starken Frauen“ die Rede, die sich typischerweise durch Eigenschaften wie Ehrgeiz und knallhartes Vorgehen auszeichnen. Dass weibliche Figuren inzwischen nicht ausschließlich auf emotionaler Ebene dargestellt werden ist zu begrüßen. Doch ist „die starke Frau“ dabei nicht ebenfalls bereits zu einem Klischee geworden?
Frauenfiguren mit traditionell als männlich angesehenen Charakteristiken zu versehen bedeutet nicht, dass diese zwangsläufig komplexer werden. Das zeigt sich zum Beispiel anhand mancher TV-Kommissarin, die neben berufliche Kompetenz nicht viel zu bieten hat. Statt bei der Figurenentwicklung in Kategorien wie „weiblich“ und „männlich“ zu denken, sollte vordergründig eine Persönlichkeit entwickelt werden. Unabhängig von Geschlecht ist die Basis ein jeder guten Figur deren Gefühlswelt. Aspekte wie der Wunsch nach Zugehörigkeit, Selbstzweifel und menschliche Schwächen dienen für Zuschauerinnen und Zuschauer als emotionale Verbindung zur Figur. Der Ansatz, Frauenfiguren in ihrer Emotionalität und damit in ihren Bedürfnissen und Schwächen zu beschneiden, birgt somit die Gefahr der allmächtigen Superfrau, die sich schwerlich als Identifikationsfigur eignet. Mit Weiblichkeit verbundene Werte wie Fürsorge und Intuition werden negativ besetzt. Stärke und Kompetenz der weiblichen Figur werden eindimensional, zum Beispiel nur auf beruflicher Ebene vermittelt.
Es stellt sich die Frage, wie es gelingen kann, eine Frauenfigur zu gestalten, deren Emotionalität nicht zum Fallstrick wird, sondern eher zur Lösung des Konflikts beiträgt.
Interessanterweise bieten sich derzeit gerade im Genrefilm Beispiele, wie dies gelingen kann. Im 2015 erschienenen post-apokalyptischen Actionfilm MAD MAX: FURY ROAD gelingt es der Figur Imperator Furiosa, eine Gruppe von Sex-Sklavinnen zu befreien. Dabei zeichnet sie sich durch Willenskraft und Kampfgeist, aber auch Beschützerinstinkt und Intuition aus. In der finalen Auseinandersetzung von ROGUE ONE: A STAR WARS STORY (2016) opfert die Heldin Jyn Erso ihr Leben, um die Zukunft ihres Planeten zu retten. Diese Selbstaufopferung ist fest in ihrem Wertesystem verankert. Jyns absolute Hingabe zu ihrer Mission beruht auf ihrem Gerechtigkeitssinn und ihrer Loyalität. Eine Nebenhandlung, die ihre Emotionalität wie so häufig gezeigt durch eine Liebesbeziehung darstellt, wird so unnötig. Auch die Comic-Adaption WONDER WOMAN (2017) zeigt uns eine Protagonistin, die sich in einer Kernszene voll Mut und Tatkraft dem Kugelhagel feindlicher Truppen stellt. Motiviert wird sie dabei jedoch von ihrem Bedürfnis, den unter dem Krieg leidenden Menschen zu helfen.
Dabei sind komplexe Frauenfiguren im Genrefilm nichts Neues. Bereits in den 1970ern und 80ern lieferten Produktionen wie ALIEN und TERMINATOR dem Publikum Frauenfiguren, die nicht als bloßes Opfer oder Liebesobjekt für den Helden herhalten müssen. Vielmehr schlüpfen Figuren wie Sarah Connor und Ellen Ripley während der Handlung in unterschiedliche Rollen, die ihr Facettenreichtum darlegen. Sie sind (Katzen-)Mutter und Krankenschwester, Kämpferin und analytische Denkerin zugleich. Erwähnenswert ist dabei, dass das von Dan O’Bannon verfasste Drehbuch von ALIEN ursprünglich mit geschlechterneutralen Rollen versehen war. Die Figuren wurden nur mit Nachnamen benannt und die Gefahr von Geschlechterklischees gebannt. Dieser Ansatz ist mittlerweile von Schauspielerin Belinde Ruth Stieve als NEROPA-Methode (Neutrale Rollen-Parität) übernommen und weiterentwickelt worden.
Dass Sarah Connor und Ellen Ripley jahrzehntelang als Positivbeispiele für Frauenfiguren zitiert wurden, beweist jedoch den lange vorherrschenden Mangelzustand.
Als Game Changer für den kürzlichen Aufschwung ist in erster Linie eine literarische Figur zu nennen. Die von der amerikanischen Schriftstellerin Suzanne Collins konzipierte Protagonistin der 2008 erschienenen Roman-Trilogie HUNGER GAMES Katniss Everdeen fand jedoch auch auf der Leinwand großen Anklang bei Kritik und Publikum. Die Ausgewogenheit ihres Charakters, ihre zugängliche Gefühlswelt und ihr nicht auf Attraktivität ausgelegtes Erscheinungsbild bieten eine perfekte Grundlage, auf der auch Figuren wie Imperator Furiosa und Jyn Erso aufgebaut sind. Wie ihre Vorreiterinnen Ellen Ripley und Sarah Connor verkörpert auch Katniss unterschiedliche Rollen innerhalb der Handlung. Sie ist Beschützerin, Anführerin der Rebellion und Märtyrerin zugleich. Gleich zu Beginn der Geschichte tritt sie fürsorglich auf, als sie ihre jüngere Schwester nach einem Alptraum im Arm hält und ihr ein Lied vorsingt. Kontrastiert wird dies kurz darauf mit ihrer Rolle als kompetente Jägerin. Erwähnenswert ist, dass beide Facetten nicht auf biologischer Grundlage ruhen, sondern im sozialen Umfeld verwurzelt sind. Katniss hat das Jagen von ihrem verstorbenen Vater gelernt und ersetzt diesen nun, um die Familie zu ernähren. Die Mutter befindet sich seit dem Tod des Vaters in einem apathischen Zustand. So muss Katniss auch ihre Rolle übernehmen, um die familiäre Stabilität zu sichern. Als Katniss‘ Schwester per Losentscheidung zur Teilnahme an den zumeist tödlich verlaufenden Hungerspielen ausgewählt wird, meldet sich Katniss freiwillig, den Platz ihrer Schwester einzunehmen.
Beim nachfolgenden im Fernsehen ausgestrahlten Wettstreit zeigt sie sich abwartend. Anstatt sich der Konkurrenz zu stellen und diese zu töten, geht sie der Konfrontation aus dem Weg in der Hoffnung, dass ihre Gegner sich gegenseitig ausschalten. Begabung und Erfahrung im Umgang mit Pfeil und Bogen sind wichtige Faktoren ihres Erfolgs im Kampf um das Überleben. Ausschlaggebend ist aber ihre Erkenntnis, dass sie sich die Publikumsgunst nur durch eine emotionale Bindung sichern kann. So geht sie eine kalkulierte Liebesbeziehung zu einem Mitstreiter ein. Das Publikum verfolgt gebannt, wie Katniss mit diesem Konflikt umgeht und versorgt sie per Fernsehabstimmung mit Hilfsmitteln, die ihr Überleben sichern. So gelingt es Katniss, die unterschiedlichen Seiten ihrer Persönlichkeit zu ihrem Vorteil auszuspielen. Sie weiß die öffentliche Wahrnehmung von Frauen als Liebesobjekt für sich zu nutzen und spielt Veranstalter und Publikum damit aus. Der performative Aspekt zeigt sich auch in ihrem Erscheinungsbild. Privat eher praktisch gekleidet, um optimal jagen zu können, wird sie dem Publikum in einem aufmerksamkeitsheischenden Flammenkleid präsentiert. Dies entspricht weniger ihrem Naturell als den Erwartungen des Publikums.
Auffallend ist das Fehlen jeglicher beruflichen Ambitionen. Im Gegensatz zu anderen Frauenfiguren in der Geschichte, die auf professioneller Ebene agieren, sieht sich Katniss vorrangig als Teil ihrer Familie. Kontrastiert wird dies wiederum mit ihrem fehlenden Wunsch, einmal eine eigene Familie zu gründen. Katniss‘ Verantwortungsgefühl lässt es nicht zu, Kinder in die vorherrschende dystopische Welt zu setzen. Erst nachdem sie eine Revolution auslöst und diese gewonnen ist, bricht ihr innerer Widerstand. So endet die Trilogie mit Katniss, die ein Baby im Arm hält. Was auf den ersten Blick rückständig scheint, symbolisiert hier die Vollendung ihrer persönlichen Entwicklung und ihre Hoffnung auf eine friedliche Zukunft.
Entscheidend in der Darstellung von Katniss‘ ist auch die Art, auf der sie die Revolution auslöst. Als sie sich mit ihrer jüngsten Kontrahentin verbündet und diese kurz darauf von einem Mitstreiter angegriffen wird, tötet Katniss diesen. Die Realisation, zum ersten Mal einen Menschen umgebracht zu haben, löst bei ihr eine post-traumatische Störung aus. Fassungslos hält sie ihre sterbende Verbündete im Arm und singt ihr das Lied, das sie zu Anfang auch ihrer Schwester vorgesungen hat. Fürsorglich legt sie Blumen auf den Leichnam. Dieser Akt der Menschlichkeit setzt beim Fernsehpublikum eine Rebellion in Gang. Es ist somit Katniss‘ Fähigkeit zum Mitgefühl und nicht ihre kämpferische Qualität, der die Lösung des übergreifenden Konflikts in die Wege leitet. Dies zeigt, dass mit Weiblichkeit verbundene Werte nicht zwangsläufig als hinderlich zu verstehen sind.
Katniss Everdeens Komplexität zeichnet sich somit durch spannende Brüche in ihrer Persönlichkeit bezüglich der Rolle als Frau und Mutter aus. Das Wechselspiel ihres beschützenden Verhaltens und kämpferischen Könnens fordert dabei zugleich Anerkennung und Mitgefühl des Publikums. Auch zeigt das durch Verantwortungsgefühl und Führungsqualität ausgeglichene Manko einer beruflichen Identität, dass die Kompetenz von Frauenfiguren nicht nur über die berufliche Ebene zu bedienen ist.