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Die Vergangenheit der Welt

World-driven Storytelling fügt dem Erzählen eine neue Dimension hinzu: die Raumzeit.

Transmediale Projekte, zeitgemäße Serien, aber auch Einzelfilme sind derweil maßgeblich von einer Storyworld geprägt. Doch wie lässt sich eine interessante Welt entwerfen? Eva-Maria Fahmüller arbeitet an und mit einer Dramaturgie zur Entwicklung von Welten und dem „world-driven“-Erzählen. Ein zentraler Aspekt davon ist, die Welt nicht nur in der Gegenwart der Geschichte zu sehen, sondern auch aus ihrer Vergangenheit zu schöpfen.

Das Fundament jeder Geschichte

Vergessen wir für kurze Zeit die Gegenwart einer Serie oder eines Films und treten einen Schritt zurück. Denn Kultur, Figuren, Beziehungen und Milieus, in die wir in einer Serie oder einem Film eintauchen, waren nicht auf einmal da. In allen Elementen einer Film- oder Serienwelt kommt eine Vorgeschichte zum Ausdruck. Oder andersherum gesagt: Ohne die Gestaltung der Vergangenheit einer Welt lässt sich ihre Gegenwart nicht präzise entwickeln.

Ohne die Gestaltung der Vergangenheit einer Welt lässt sich ihre Gegenwart nicht präzise entwickeln.

Das Prinzip der Welt-Historie findet sich mehr oder weniger subtil und vielfältig in allen Filmen und Serien. Autorinnen und Autoren erzählen von einem bestimmten Stand der Technik oder einem akuten politischen Moment. Die Vergangenheit bildet das unausgesprochene Fundament jeder Geschichte, das als Basis für das aktuelle Geschehen dient:

•          THE CROWN trägt die ganze Geschichte des britischen Empire in sich.

•          Der Stadtstaat Piltover in der Fantasy-Serie ARCANE ist aufgrund vergangener Geschehnisse geteilt in einen fortschrittlichen, reichen und einen rückständigen, armen Stadtteil.

•          Die Mini-Serie CHERNOBYL ist maßgeblich geprägt vom Eisernen Vorhang und den Strukturen, die sich in der Sowjetunion vor dem Reaktorunglück gebildet haben.

•          Die Finanzwelt in der Serie BAD BANKS mit ihrem unmenschlichen Turbokapitalismus wäre nicht konkret und plausibel, ohne dessen Entwicklung bis zum Stand der Serie mitzudenken.

•          Die ganz private Situation von Hannes und Ralle an einer Endhaltestelle in Brandenburg in WARTEN AUF’N BUS wird erzählt vor dem Hintergrund von DDR und Nachwendezeit und der Verödung von Landstrichen.

Mehr als nur die Backstory der Figuren

An diesen, hier nur grob skizzierten, Beispielen wird deutlich: Gemeint ist mit „Vergangenheit der Welt“ nicht nur, dass jede Figur eine eigene Backstory besitzt. Gerade in episch breit angelegten, horizontal erzählten Serien erzeugen individuell entwickelte Backstorys nicht unbedingt Kohärenz. Es besteht vielmehr die Gefahr, dass das Auseinanderfallen der Geschichte verstärkt wird, wenn der Fokus immer wieder auf unterschiedliche private lines rutscht. Interessanter ist, wenn es (auch) eine übergreifende Backstory der Welt der Geschichte gibt. Sie hat alle Figuren und alle Elemente geprägt – in jeweils ganz unterschiedlicher Form. Eine gemeinsame Vergangenheit, die in alle Backstorys hineinspielt und darin variiert, kann zum Urgrund einer Geschichte werden. Die einzelnen Teile wachsen zu etwas Größerem zusammen. Die Welt wird als einheitstiftend für die Geschichte genutzt.

Stellen wir uns eine Serie vor, die gerade entwickelt wird: Es ist hilfreich, den Erzählraum nicht nur in der Gegenwart mit Grenzen, Regeln, Teilwelten und Figuren zu füllen. Die Welt wird erst konkret durch ein Verständnis davon, wie sie entstanden ist. Das bedeutet, nach Ereignissen zu suchen, die prägend für das Ensemble eines Stoffes waren. Je nachdem: von Staaten über Städte oder Dörfer bis hin zu Freundschaften oder Familien: Wodurch könnte ein wirtschaftlicher oder kultureller Boom entstanden sein – oder ein Abschwung, vielleicht Resignation? Welche Machtstrukturen haben sich warum entwickelt? Welche Auswirkungen könnten frühere Streitigkeiten, Gewalt oder Krieg mittel- und langfristig haben? Wie ist der Firnis der Zivilisation entstanden, der diese besondere Gemeinschaft prägt?

Varianten zur Vergangenheit eines Krankenhauses

Als Beispiel dient die Entwicklung eines Medicals. Das Setting Krankenhaus ist Ausgangspunkt für eine zu entwickelnde Serienwelt. Die Frage nach der spezifischen Historie eröffnet Spielräume für die Gegenwart. Das gilt nicht nur für die Welt, sondern auch für Plots und Figuren, die sich aufgrund ihrer unterschiedlichen Charaktere verschieden positionieren. Hier ein paar hingeworfene Ideen, alles Einzelbeispiele, die untereinander in keinem Zusammenhang stehen:

•          Ein katholischer Nonnenorden hat das Krankenhaus 1870 als Hospital für mittellose Menschen gegründet.

•          Seit 150 Jahren wird dort auch geforscht. Das Krankenhaus hat eine große Tradition, es wurden stets nur die besten Ärztinnen oder Ärzte angestellt.

•          Vor 20 Jahren wurde das Krankenhaus modernisiert und privatisiert. Seitdem muss es vor allem Profit abwerfen.

•          Im Zweiten Weltkrieg wurden seine Keller als Luftschutzraum für die Bevölkerung (oder als Labor für Menschenversuche) genutzt.

•          Als kleinstädtisches Krankenhaus ist es in den 80er-Jahren gebaut und seitdem nicht mehr saniert worden.

•          Es wurde auf dem Grundstück einer in früheren Zeiten verfolgten und dort ermordeten ethnischen Minderheit gebaut.

Jede dieser Varianten eröffnet einen anderen Assoziationsrahmen, der die Welt auch in ihrer Gegenwart prägt. In Bezug auf das Setting kann das z.B. eine historische Kapelle sein. Genauso im städtischen Krankenhaus ein gammeliger Eingangsbereich mit einem seit langem verwaisten Blumengeschäft. Figuren und Plots können daraus abgeleitet werden, z.B. eine alte Nonne, die als letztes Mitglied des Ordens die alte Kapelle pflegt und ein offenes Ohr für alle hat, die dort Trost suchen. Oder gestresste Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die versuchen, die bevorstehende Schließung des Krankenhauses zu verhindern.

Die Vergangenheit als Träger des Grundkonflikts

Das führt zu einer weiteren Überlegung: Die Vergangenheit ist ein ideales Vehikel für den Grundkonflikt (an dieser Stelle Dank an Alexander Lauber für seine Überlegungen zu einem Modell der geteilten Stadt im Wendepunkt #52, S. 12 ff.). Möglich wird dies immer dann, wenn Vergangenheit von einem Teil des Ensembles überwunden oder – im Gegenteil – bewahrt werden soll. Manche Figuren stehen auf der einen oder anderen Seite. Beide Seiten transportieren eine über sich hinausweisende, tiefere Bedeutung in der Welt der Geschichte. Darüber hinaus können besonders zentrale Figuren nicht nur in einem äußeren, z.B. zwischenmenschlichen, Konflikt erzählt werden, sondern selbst in moralische Bedrängnis geraten, bei der sie zwischen zwei widersprüchlichen Normen, zwischen Vergangenheit und Gegenwart oder zwischen beiden Teilwelten stehen. Im Idealfall geraten sie in ein ethisches Dilemma, bei dem sie sich zwischen zwei grundsätzlichen Werten entscheiden müssen.

So erzählt die HBO-Serie CHERNOBYL über den Super-GAU 1986 im gleichnamigen Atomreaktor in der Sowjetunion. Der Wissenschaftler Valery Legasov sucht nach den wahren Gründen für das Unglück. Sein Gegenpol sind Figuren aus der sowjetischen Politkaste, die in eine seit Jahrzehnten gewachsene Vertuschungskultur eingebunden sind. Erzählt wird ein Wertekonflikt zwischen Wahrheit und Lüge. Auch Legasov selbst gerät in ein Dilemma. Die Welt der Geschichte hat eine übergreifende Backstory, der er nicht entkommt. In seiner Vergangenheit war Legasov ein staatstreues Mitglied des Systems. Er hat andere verraten und ist damit erpressbar.

Wo beginnt die Gegenwart?

Während der Stoffentwicklung sind Vergangenheit und Gegenwart einer Welt oft noch nicht trennscharf. Der Zeitpunkt, an dem Figuren auftreten und der Plot beginnt, muss erst gefunden werden – vielleicht auf einer, vielleicht auf mehreren Zeitebenen. Was wird tatsächlich im On präsentiert? Welche Teilwelten sieht das Publikum? Der größte Bestandteil der Geschichte liegt allerdings dahinter – unsichtbar als Vergangenheit der Welt – prägend für alles, was in der eigentlichen Geschichte passiert. Soweit der Blick zurück.