Um uns herum ragen jahrhundertealte Bäume auf, ruhig und kraftvoll, mit majestätischen Kronen. Eine urwüchsige Fauna von beeindruckender Schönheit … Es ist gleichgültig, ob wir realiter in einem solchen Urwald stehen, ob wir ihn in einer Dokumentation sehen oder ob wir ihn wie in AVATAR – AUFBRUCH NACH PANDORA (2009) in einer CGI-Variante zu Gesicht bekommen: Wir empfinden Ergriffenheit, Bewunderung, Staunen.
Gern klassifizieren wir solche Gefühle als ästhetische Empfindungen und grenzen sie von moralischen Empfindungen ab. Doch gerade ästhetische Gefühle sind es, die auch eine moralische Einschätzung in uns aufkommen lassen, in diesem Fall die, ein solcher Urwald sei „gut“ und in seiner nativen Anmut zu bewahren.
Eine trennscharfe Unterscheidung zwischen ästhetischem und moralischem Empfinden ist auf der Ebene des psychischen Erlebens also nicht immer möglich, und das filmische Erzählen nutzt dies schon lange trickreich aus. Ein weiteres Beispiel, diesmal mit potenziell negativen Folgen: Heroische Figuren werden im Film oft als schöne Menschen und ihre Widersacher als physisch abnorm dargestellt. Wird ein solches Narrativ oft genug wiederholt, verführt es uns dazu, an Äußerlichkeiten den Charakter von Menschen abzulesen oder ihnen basierend darauf gar einen sozialen Wert zuzumessen. Seit einigen Jahren verweigert das British Film Institute deswegen Filmen eine Förderung, in denen Antagonisten Narben oder Verunstaltungen haben
Ob solche Maßnahmen gerechtfertigt oder zielführend sind, sei dahingestellt. Unstrittig ist, dass sich auch die Stoffentwicklung zunehmend Fragen erzählerischer Verantwortung stellt. Verfahren wie Sensitivity Reading oder das Bemühen um Repräsentation zeigen, dass das Bewusstsein dafür wächst, dass Geschichten über die Emotionen, die sie wecken, einen nachhaltigen Einfluss auf uns ausüben. Sie verändern – und das meist unbewusst – unser Denken, Fühlen und Handeln.
Aber warum ist das eigentlich so?
Unser narrativer Betriebsmodus
Evolutionspsychologen wie Jonathan Gottschall und Brian Boyd legen dar, dass dieser Mechanismus ins Menschsein eingebaut ist. Unsere Fähigkeit, narrativ zu denken, verschaffte uns einmal Überlebensvorteile. Narrative und ihre größeren Brüder und Schwestern, die Geschichten, vermitteln Erfahrungswissen, das uns dazu dient, neuartige, unübersichtliche und potenziell bedrohliche Situationen zu navigieren. Sie helfen uns, schnell und überzeugt zu handeln, ohne dass wir dazu eine komplexe oder zeitintensive Analyse vornehmen müssten.
Dieses Rüstzeug aus der Steinzeit stellt uns vor einige Herausforderungen. In unserer digitalisierten Welt, in der wir permanent Narrative konsumieren und teilen, wird die realitätsverzerrende Wirkung von Narrativen schnell potenziert.
Sehr deutlich wird das bei Angstgeschichten, auf die wir evolutionär bedingt den größten Heißhunger haben. Doomscrolling, Fake News und Verschwörungstheorien sind offensichtliche Symptome; weniger leicht zu bemerken sind die zahllosen unbewussten Voreingenommenheiten, die Narrative transportieren. Dabei machen wir uns zu selten klar, dass für die Fiction dieselben Wirkungsgesetze wie für nonfiktionale Geschichten gelten. Studien zeigen beispielsweise, dass Menschen, die viele Krimis schauen, die Welt als bedrohlicher empfinden und ihr misstrauischer begegnen als die, die es nicht tun. Die Sozialpsychologie bezeichnet das als Mean World Syndrome. Das Krimipublikum hält ein Weltbild aufrecht, das mit den zurückgehenden Kriminalitätsraten nicht korrespondiert.
Die Idee, Erzählungen inhaltlich zu reglementieren, um potenziellen Schaden abzuwenden, so wie das British Film Institute es tut, liegt insofern nahe. Ebenso nahe liegt der angesichts Klimawandel und anderen Problemen aufkommende Wunsch, „mit Geschichten die Welt zu retten“ (siehe Gisela Wehrl im WENDEPUNKT #55). Beide Impulse berühren alte Fragen des Kunstschaffens: Was ist die Aufgabe der Kunst? Was ist ihr erlaubt? Welcher Verantwortung muss sie sich stellen?
Kunst und Wirkung
Kunst wurde über die Jahrhunderte hinweg immer wieder dichotom verstanden und eingeteilt. Die eine Position beschreibt Kunst als etwas, das aus sich selbst kommen muss, als sozial entrückt, als transzendent und als im Wesentlichen durch ästhetische Wirkungen gekennzeichnet. R. G. Collingwood und Keith Oatley sind zwei modernere Vertreter dieser Haltung. Der andere Standpunkt – dass Kunst überpersönliche Anliegen und handfeste Auswirkungen in der Welt hat –, existiert jedoch genauso lange. Platon wendete sich in „Die Republik“ gegen ein ungezügeltes, nicht den Staatszielen untergeordnetes Erzählen, und im letzten Jahrhundert verlangte Bertolt Brecht dem Theater ab, nicht „die Welt zu interpretieren, sondern sie zu verändern“.
Letzten Endes sind dies nur scheinbar entgegengesetzte Positionen, die immer wieder im Auf- oder Abschwung sind. Der intrinsische Wert der Kunst als nahezu heiliges Objekt und ihre praktische Macht in der Welt widersprechen sich nicht, auch wenn sie im Einzelfall miteinander kollidieren. Aktuell tut sich die Filmkunst allerdings eher schwer damit, ihre gern als archetypisch angesehene Aufgabe wahrzunehmen, uns aufzurütteln, uns neue Wege des Denkens, Fühlens und Handelns aufzuzeigen und uns „tiefe Erlebnisse jenseits des Erwartbaren“ zu vermitteln (Roland Zag im WENDEPUNKT #55). Die Ursachen dafür sind vielfältig, doch eine ist, dass es angesichts unserer komplexer gewordenen Welt längst notwendig für Kunstschaffende ist, auch das eigene Wirken einem komplexeren Blick zu unterziehen.
Dramaturgie trifft Psychologie
Seit Beginn der 80er-Jahre tragen Psychologie, Kognitionswissenschaften und weitere Disziplinen Erkenntnisse zur Wirkungsmechanik des Erzählens zusammen, die bisher darauf warten, in die Dramaturgie integriert zu werden. Dazu zählt, dass der emotionale Schluss einer Geschichte entscheidend für die Nachwirkung im Leben der Menschen und der Gesellschaft ist. Filme wie SNOWDEN (2016) oder TIDES (2021) mögen vom Feuilleton als gesellschaftskritisch angesehen werden, doch in Wahrheit lassen sie das Publikum mit fatalistischen Gefühlen über die Welt zurück und schreiben so den Status Quo fest – das Gegenteil der vermutlich gewünschten Wirkung des Aufweckens.
Ein anderes Beispiel: Früher sprachen wir von Antikriegsfilmen. Inzwischen ist uns bewusst, dass Filme, die an der Front spielen und uns zwei Stunden Ausweglosigkeit erleben lassen, zwar für die Dauer des Erlebens erschüttern, aber genau diese Ausweglosigkeit in uns festschreiben. Wir sprechen deswegen inzwischen von Kriegsfilmen. Sie erzeugen eine Disposition zum Nichthandeln, zum Aushalten und Ertragen, also zum Dulden von Krieg.
Solange Wirkungsgesetze wie diese unbekannt sind oder keine Anwendung finden, ist es weder verwunderlich, dass Filme unwillkommene Nebeneffekte haben, noch dass die Filmkunst Mühe hat, ihr Publikum mit Unvorhergesehenem zu erschüttern. Insbesondere Kunstschaffende, die sich als integral erneuernde Elemente der Kultur ansehen, sollten sich demnach mit der Psychologie der unbewussten Wirkungen beschäftigen. Sie kann ihnen helfen, Filme so zu erzählen, dass sich ihre Intentionen auch realisieren. Nur dann wird der Film das, was er beabsichtigt zu sein – und kein gutgemeintes, aber resignatives Statement à la „Ich bin eigentlich auch der Meinung, dass …, aber man kann leider nichts machen.“
Die Zukunft des Erzählens
Will die Dramaturgie die psychischen und ganz lebendigen Wirkungen, die denen des Filmerlebnisses folgen, umfassender berücksichtigen, dann sollte sie sich einem systemischen Denken öffnen. Denn eine Dramaturgie, die sich vornehmlich der Drehbuch-Intention widmet und Zuschauende als Dekodierende versteht, folgt einem überholten Kommunikationsmodell: „Ich sende, du empfängst.“ Das ist weder zeitgemäß, noch klug – gerade wenn Filme sensible oder die gesamte Gesellschaft betreffende Themen verhandeln und ihnen Shitstorms und das Risiko des wirtschaftlichen Misserfolgs drohen.
Ein transaktionales Modell der Dramaturgie stellt die Dinge komplexer dar. Es begreift das Drehbuch als Bestandteil einer wechselseitigen Kommunikation, in der die Bedeutung des Films von den Beteiligten ko-kreiert wird. Kunstschaffende würden das Publikum darin als gleichwertig ansehen und ihr Werk umsichtig auf den psychologischen, kulturellen und sozialen Kontext beziehen. Konkret bedeutet das beispielsweise, keine Öko-Dystopien mehr zu erzählen, die das ohnehin resignativ gestimmte Publikum weiter demotivieren, sondern – so wie es die AVATAR-Filmreihe versucht – ermutigende Geschichten, die uns alternative Lebensweisen aufzeigen und Selbstwirksamkeit spüren lassen.
Vermutlich werden wir Jahre, wenn nicht Jahrzehnte brauchen, um das verfügbare psychologische und systemische Wissen in die Dramaturgie zu integrieren und ebenso lange brauchen, um als Kunstschaffende und dramaturgisch Tätige einen natürlichen und intuitiven Umgang damit zu finden. Unterwegs wird es jene geben, die dieses Wissen einsetzen, um mehr oder weniger subtil zu manipulieren, und es wird jene geben, die vor der Macht der Geschichten eingeschüchtert zurückschrecken oder sie als Rechtfertigung nutzen, dem künstlerischen Schaffen die Zügel anzulegen. Das ist das, was automatisch in jedem Lernprozess passiert, und es wird sich auch später nie ganz abstellen lassen.
Der dramaturgische Baukasten wird jedoch durch vielfältige Instrumente erweitert werden, und es wird im Ermessen der Einzelnen liegen, wie sie sich daraus bedienen. Die Hoffnung besteht, dass wir irgendwann zu einem flüssigen Mitdenken der neuen Aspekte gelangen und eine systemische Erzählkompetenz erlangen – die Fähigkeit, bewusster mit den realen Auswirkungen, die Kunstbeiträge in der menschlichen Gesellschaft haben können, umzugehen. Wenn dieser Transformationsprozess gut läuft, wird am Ende die Frage nach erzählerischer Verantwortung nur mehr eine ferne Erinnerung sein. Dann konzentrieren wir uns statt auf Ethik wieder auf das gute Erzählen. Und manchmal wird dann ein Urwald einfach nur ein Urwald sein und eine Narbe eine Narbe.