Interaktivität ist die zusätzliche Achse, die Games von vielen anderen Medien unterscheidet. Die Spielenden können aktiv ins Geschehen eingreifen, eigene Erfahrungen machen und Entscheidungen treffen. Aus einer linearen Geschichte, wie man sie vom Film gewohnt ist, wird plötzlich ein non-lineares Geflecht aus Verzweigungen und alternativen Verläufen. „A game is a series of interesting decisions“ ist eines der prägendsten Mantras im Game Design, ursprünglich formuliert von Sid Meier.
„A game is a series of interesting decisions“
Doch wenn die Spielenden selbst es sind, die die Entscheidungen in unseren Geschichten treffen, gerät so mancher Plot außer Kontrolle. Entscheidet sich Neo für die rote oder die blaue Pille? Wäre MATRIX ein Spiel, könnte diese Entscheidung von den Spielenden getroffen werden und der Lauf der Geschichte wäre für viele ein anderer. Im Fall von Neo wäre die Geschichte nach dem Verzehr der „falschen“ Pille wahrscheinlich direkt vorbei und die Story relativ uninteressant. In dem Moment, in dem wir den Spielenden eine Entscheidung zur Verfügung stellen, müssen wir also damit leben, dass sie anders entscheiden können, als wir es tun würden oder als wir wollen. Das Vorherbestimmen eines Narrativs wird so stark erschwert.
Einige Forschende des Fachbereichs Ludologie argumentieren, dass Spiele deswegen gänzlich ungeeignet sind, um lineare Geschichten zu erzählen. Die Idee von Interaktivität vertrage sich nicht mit linearen Geschichten. Von Angehörigen dieses Lagers werden Games eher als „Spielplätze“ oder „Toy boxes“ beschrieben. Dies sind Umgebungen, in denen wir den Spielenden möglichst viele Angebote machen, um ihre eigenen Entscheidungen zu treffen und ihre eigenen Geschichten zu erleben.
Die Geschichten, die dabei erlebt werden, werden „emergent narrative“ genannt – die Geschichte, die beim Spielen entsteht. Diese können sehr simpel sein („Erst habe ich den blauen Troll erschossen, dann bin ich über den Abgrund gesprungen und habe meine Waffe nachgeladen, bevor ich den großen Drachen besiegt habe“) oder auch eine hohe, gar epische Komplexität erreichen. So gibt es Partien des Spiels CIVILIZATION, welche über hunderte Spieljahre verlaufen und in denen die Welt epische Schlachten und Intrigen überstehen musste, obwohl dies im ursprünglich Design so nicht vorgesehen war. Ken Levine (Bioshock) versucht aktuell, über prozedurale Generierung ein System zu bauen, welches schier unendlich viele Geschichten generieren kann, indem auf jede Entscheidung der Spielenden eine veränderte Geschichte errechnet wird – „Narrative Lego“ nennt er dieses System, in dem eine Geschichte automatisch aus vorherbestimmten „Legosteinen“ zusammengebaut wird. Das Potenzial von generativer KI wie ChatGPT sei hier nur kurz erwähnt.
Doch wenn ein Spiel unendlich viele Geschichten erzählen kann und auf alle Entscheidungen der Spielenden eine Antwort hat – macht das die Geschichte und das Spielerlebnis interessanter, oder sind vielleicht nur einige der Geschichten, die erzählt werden können, interessant? Dieses Problem wird „A thousand bowls of oatmeal“ genannt – wenn ich unendlich viele Geschichten erzählen kann, aber diese alle bloß so interessant sind wie Haferbrei, dann ist das Ziel wahrscheinlich verfehlt.
Doch die vorherrschende Meinung ist, dass Games durchaus Geschichten erzählen können – und dies auch sehr erfolgreich tun. Die Geschichten, die Spiele wie THE LAST OF US oder FIREWATCH erzählen, haben Millionen Menschen tief berührt. Spiele wie diese erzählen relativ lineare Geschichten, welche denen von Filmen recht stark ähneln. So nennen die Kreativen hinter THE LAST OF US zum Beispiel Robert McKee als eine ihrer wertvollsten Informationsquellen zum Thema Storytelling. Der Versuch, Techniken aus dem klassischen Storytelling mit dem interaktiven Games-Medium zu vereinen, stößt aber an vielen Stellen an seine Grenzen.
Oftmals geschieht es zum Beispiel, dass sich die erzählte oder intendierte Geschichte von der erlebten Geschichte (also dem emergent narrative) unterscheidet. UNCHARTED ist ein Beispiel für so ein Spiel: Das eigentliche Spiel wird hier immer wieder von “Cutscenes” (also kurzen Filmen) unterbrochen, welche die Geschichte weitererzählen. Während der Hauptcharakter Nathan Drake in den Spielsequenzen also Tausende(!) von feindlichen Soldaten tötet und sich von Treffern innerhalb von Sekunden wieder erholen kann, indem er einfach tief durchatmet, versucht die erzählte Geschichte, ihn als sensiblen Surferboy zu porträtieren. In einer der Cutscenes wird er angeschossen, was ihn (anders als die vielen hundert Male, als dies in den interaktiven Sequenzen passiert ist) dauerhaft verletzt, da dies für den Verlauf der erzählten Geschichte notwendig ist. Die Geschichte, die das Spiel erzählt, und das Gameplay, welches das Spiel anbietet, kannibalisieren sich gegenseitig und stehen im Konflikt – „ludonarrative Dissonanz“ wird dies genannt.
In einigen Spielen werden deswegen schlichtweg die Spielsequenzen nicht als „richtiger“ Teil der Geschichte angesehen. Doch wenn ein Spiel seine Story nur über die Filmsequenzen erzählt, die zwischen den Gameplay-Sequenzen abgespielt werden, nutzt es nicht wirklich die Potenziale und Eigenheiten seines Mediums aus. Seinerzeit wurde HALF LIFE als Revolution für Storytelling in Games angesehen, weil die Spielenden während der Filmsequenzen weiter durch die Spielwelt laufen konnten, sodass das Spiel zumindest ein Spiel geblieben ist und nicht zum Film übergehen musste. Einen Einfluss auf die Geschichte konnten die Spielenden dadurch aber auch nicht nehmen, sie liefen und sprangen nur wild durch die Räume der Spielwelt, während die anderen Charaktere ihren Dialog runter ratterten.
Eine Geschichte zu erzählen, während eigentlich die Spielenden die Zügel in der Hand haben, ist nicht einfach. Oftmals wird die Freiheit der Spielenden beschränkt, damit die Geschichte nicht zu sehr aus dem Ruder gerät. In UNCHARTED kann man z. B. auf manche Charaktere, die für den Verlauf der Geschichte wichtig sind, nicht schießen – der Knopfdruck wird schlichtweg ignoriert.
Einschränkungen in der Freiheit der Spielenden sind wahrscheinlich notwendig, um eine Geschichte in einem abgesteckten Rahmen erzählen zu können. Gleichzeitig stören diese die Immersion in die Geschichte („Wieso kann ich hier jetzt nicht weiter laufen?“) oder motivieren einige dazu, die Grenzen des Systems auszutesten, wodurch sie sich in vielen Spielen die Story kaputtmachen. Schließlich sind wir Game Designer es, die die Freiheiten und Grenzen der Spielenden definieren. Die Kunst ist es, genug Grenzen zu setzen, um eine kohärente Geschichte zu erzählen, während die Spielenden noch genug Freiheiten haben, um „sinnvoll“ auf die Geschichte Einfluss zu nehmen und sich in ihrer Interaktivität mit dem Spiel frei und nicht beschnitten fühlen.
Einige Spiele versuchen dies durch wenige, dafür signifikante Entscheidungen. Während der Großteil vom Gameplay keinen Einfluss auf die erzählte Geschichte hat, gibt es einige Momente, in denen die Spielenden Entscheidungen treffen, die den Lauf der Geschichte verändern. Die Geschichte besteht ab diesem Punkt aus zwei Zweigen, weswegen man dies auch „Branching Narrative“ nennt. Leider steigt der Aufwand für ein Spiel, welches diese Erzähltechnik nutzt, schnell an. Geben wir den Spielenden zum Beispiel die Entscheidung für die blaue oder rote Pille von Neo, müssen wir ab diesem Zeitpunkt zwei verschiedene Geschichten erzählen und entwickeln, welche jeweils nur die Hälfte der Spielenden zu Gesicht bekommen. Mit jeder zusätzlichen Entscheidung steigt die Komplexität exponentiell an. Aus diesem Grund arbeiten Spiele, die diese Entscheidungen anbieten, oft mit Tricks und lassen es den Spielenden nur so erscheinen, als hätten sie die Entscheidung getroffen – das Resultat ist oft dasselbe. Und auch hier reduziert sich die Besonderheit der Interaktivität des Mediums wieder auf wenige ausgewählte Momente in einer oft mehrere Stunden andauernden Erzählung. Im Game Design sprechen wir deswegen vor allem über die Verben, die wir den Spielenden an die Hand geben.
Verben sind in Spielen so wichtig, dass sich diese oftmals nur darüber definieren lassen. „Laufen“ und „Schießen“ beschreiben einen Ego-Shooter, während „Laufen“ und „Springen“ einen vielleicht direkt an SUPER MARIO denken lassen (nicht umsonst heißt das Genre „Jump and Run“). Während die Spielenden durch das Abschießen eines Maschinengewehrs ziemlich rasch signifikanten Einfluss auf den Verlauf einer Geschichte nehmen können, sind andere Verben weniger destruktiv, fühlen sich aber trotzdem signifikant an. FIREWATCH gibt den Spielenden zum Beispiel nur die Verben „Gehen“ und „Sprechen“ und erzählt durch ein ausgeklügeltes System, welches die Gesprächspartnerin Delilah simuliert, geschickt eine Geschichte, die sich anfühlt, als würde man seine ganz eigene Beziehung zu Delilah aufbauen. Andere Spiele versuchen, die erzählte Geschichte von der emergenten Geschichte zu trennen – in HER STORY von Sam Barlow z. B. wählen die Spielenden in einer simulierten Datenbank aus einer Reihe von Filmschnipseln. Zwar ist die Geschichte der Filmschnipsel vorgegeben, doch durch das Auswählen der Reihenfolge und das schrittweise Erforschen der Geschichte auf eine ganz eigene Weise erleben die Spielenden ihre ganz eigene Version der Geschichte. Hier sind die erzählte und die emergente Geschichte in Symbiose.
Beispiele, in denen sich das Narrativ und die Interaktivität nicht gegenseitig kannibalisieren, sind leider noch recht selten. Die Idee, sich auf die Verben zu fokussieren, ist im Game Design noch relativ neu. Der Fortschritt im interaktiven Storytelling der letzten 20 Jahre ist immens; gleichwohl wird oftmals der Vergleich angestellt, dass das Medium „Game“ aktuell da ist, wo der Film in den 1930er-Jahren war. Einige Durchbrüche und kritische Techniken fehlen noch – was das Erzählen von Geschichten in Games nur noch viel interessanter macht. Die Regeln sind noch nicht geschrieben, es gibt noch viele Herausforderungen und Möglichkeiten zur Innovation.