Ein Gespräch unter Kollegen brachte den Anstoß für diesen Artikel. Meine eher beiläufige These „Zum Glück ist Relevanz messbar“ stieß auf heftige Ablehnung: Relevanz sei ausschließlich individuell spürbar, eine nicht greifbare Kraft und daher für die Auseinandersetzung mit Filmen nicht verlässlich.
Dieser Gedanke beschäftigte mich. Bedeutet die Leugnung der Messbarkeit von Relevanz im Umkehrschluss, dass jedes filmische Werk in gleichem Maße relevant oder irrelevant ist? Wie hilfreich ist dies, um auf bereits spürbare sowie noch anstehende Veränderungen des Marktes zu reagieren oder um öffentliche Gelder noch verantwortungsvoller und nachhaltiger zu verteilen? Klar, die Auseinandersetzung mit Filmen und Serien ist geprägt vom eigenen Empfinden, von Prägung, Vorlieben, Interessen, Stimmungen und anderen nur schwer quantifizierbaren Einflüssen. Verschiedene dramaturgisch Tätige können trotz ähnlichem Werkzeug und Vokabular bei der Untersuchung exakt gleicher Aspekte zu teils diametral verschiedenen Einschätzungen kommen. Das sollte uns dennoch nicht davon abhalten, nach Orientierungsgrößen zu suchen.
Relevanz ist für mich so eine Größe. Sie kann und sie muss evaluiert werden. Das geht mit tiefgreifenderen Auswertungen einher, als schöngerechnete Tabellen von heimischen Marktanteilen sie bieten. Relevanz erzeugt Resonanz. Resonanz mündet in Auseinandersetzung, Bewegung, Entwicklung. Qualität und Quantität der Resonanz können jeweils Auskunft geben über die Stärke der Relevanz. Angesichts dieser logischen Kette möchte ich meine Eingangsthese also verfeinern: „Filme bieten viele Formen von Relevanz, und viele von ihnen sind messbar.“ Einige möchte ich beleuchten, ohne Anspruch auf Vollständigkeit:
Thematische Relevanz ist die offensichtlichste Form. Sie scheint klar greifbar, ist aber tückisch. Filme ohne Thema mag es geben, beabsichtigt oder unbeabsichtigt. Doch das menschliche Hirn sucht nach Mustern, nach Anknüpfungspunkten, und ergänzt Leerstellen. Somit wird selbst das Fehlen eines klaren Themas gegebenenfalls als Haltung und somit als thematischer Bezug gewertet. Wiederum andere Filme berühren gleich eine Vielzahl von Themen, was erneut den Fokus in die Hand des Publikums legt. Diese Beispiele drehen sich aber um den Begriff „Thema“. Es ist ein häufiges Missverständnis, dass dies auch thematischer Relevanz gleichkommt und zudem eng verknüpft mit dem Irrglauben, ein thematisches Anliegen ergäbe schon den Plot. So dürfte z.B. für manche eine Überraschung sein, dass es der Serie STAR TREK: DISCOVERY im Kern nicht um Raumschiffe und fremde Planeten geht, sondern um ganz irdische, religiöse und kulturelle Differenzen. Ich schweife ab. Auch zu dringenden Themen können irrelevante Filme entstehen – wenn sie keinen Diskurs anregen, keine neuen Perspektiven auftun, keine bestehenden Perspektiven auf originelle Art verdeutlichen usw. Thematische Relevanz bedeutet, den Diskurs zu einem Thema zu bereichern oder bislang wenig sichtbare Fragen oder Blickwinkel ins Licht der Öffentlichkeit zu rücken, selbst wenn dies nur für ein begrenztes Gebiet der Fall ist. DIE KINDER VON PARIS von Rose Bosch z.B. mag im Jahr 2010 weltweit wenig Aufmerksamkeit generiert haben. Doch in der französischen Heimat trug der Film stark dazu bei, dass der Mythos „ganz Frankreich war in der Résistance“ einer differenzierten Neubewertung der eigenen Kollaborationsgeschichte mit dem Dritten Reich wich. Thematische Resonanz muss man in der Stoffentwicklung erarbeiten. Der Stand der medialen Reflektion eines Themenkomplexes ist dabei genauso wichtig wie Tonalität, narrative Haltung und Entscheidungen in der konkreten Umsetzung. Das Auffahren einer Thematik ohne relevante Bearbeitung führt zwangsläufig in die Trivialität.
Relevanz erzeugt Resonanz. Resonanz mündet in Auseinandersetzung, Bewegung, Entwicklung. Qualität und Quantität der Resonanz können jeweils Auskunft geben über die Stärke der Relevanz.
„Beim Stichwort künstlerische Relevanz greift aber auf jeden Fall ausschließlich die individuelle Wahrnehmung!“, mag man lautstark argumentieren. „Nur zum Teil!“, hallt es zurück. Da ist zum einen der jährliche Turnus von Festivals und Preisen, in dem filmkünstlerische Leistungen gewürdigt werden. Hier wird zwischen A- und B-Festivals unterschieden, zwischen Jury-erwählten Auszeichnungen und demokratischen Abstimmungen, zwischen den Blickwinkeln von Fachpresse, Feuilleton und Fans. Auch Serien werden mittlerweile in Echtzeit von Presse und Publikum seziert. Geübte Grenzen verschwimmen – manche Bezahlsender liefern Bahnbrechendes, während bisherige Prestige-Kanäle zu traurigen Nachahmern werden. Nicht selten unterliegen diese Prozesse Eigendynamiken, die über eine Betrachtung von Qualität und Originalität hinausgehen. Im Gegenzug ist das Ausbleiben von Aufmerksamkeit ein deutliches Signal. Schlägt ein teuer, mit enormen Fördergeldern als künstlerisches Prestigeprojekt hofierter Film keinen glorreichen Weg ein oder fällt eine vermeintliche „High End“-Serie bereits nach kurzer Zeit aus dem kollektiven Gedächtnis, dann haben beide keine Resonanz erzeugt und keine Relevanz erreicht. Der Faktor Zeit spielt sicher eine Rolle – die Filmgeschichte bietet einflussreiche Werke, die erst spät gewürdigt wurden, aber bis heute nachhallen. Künstlerische Wirkungskraft kann sich aber auch kurzfristig zeigen. Neue Stilmittel sickern aus einem Film oder einer Serie durch in das allgemeine visuelle Vokabular, werden plötzlich in zahlreichen Werken aufgegriffen und variiert. Eigenheiten wie Handkamera, Dogma-Drehbedingungen, dramatische Zeitlupen, schnittlose Sequenzen, prägnante Schauspieltechniken, Dolly Zooms, das Durchbrechen der „Vierten Wand“ (um nur einige Beispiele zu nennen) erlebten Anfang oder Wiederbelebung in Einzelwerken. Sie wurden aufgegriffen, variiert, parodiert und konterkariert. Einfluss hat viele Gesichter. Bewegungen und Gruppen können künstlerisch relevant sein wie Dogma 95, Berliner Schule, britische Arbeiterklassenfilme der 90er oder (Sub-) Genres wie Mumblecore. Sie brachten Grenzüberschreitungen, narrative und stilistische Innovation oder kombinierten Vorhandenes auf neue Weise. Auch Einzelstimmen können durch die Klarheit und Eigensinnigkeit ihrer Visionen über ihr Oeuvre hinweg die Facetten des Mediums Film erweitern – ob nun Kathryn Bigelows genreüberschreitende und mitreißende Bearbeitung politischer Themen, Russel T. Davies’ Blick für sozialen Zündstoff, Jacques Audiards geniale Spagate zwischen archaischem Realismus und Mainstream-Melodrama oder aktuell Chloe Zhaos soghafte Poesie des Alltags, um Beispiele zu nennen. Der Blick über Landes- und Mediatheksgrenzen hinaus ist mittlerweile unerlässlich, um den Überblick über die filmkünstlerische Gegenwart zu behalten. Wenn das Publikum z.B. durch Streamer Zugriff auf globale Werke jeglicher Ausprägung hat, tun Kreative gut daran, ihre eigene Konsum-Komfortzone ebenfalls zu verlassen. Es gibt kaum noch den Wissensvorsprung einer „Festivalelite“, um es überspitzt zu formulieren. Durchschaubare Nachahmer-Produkte sind nun weniger spannend, wenn die Originale bekannt und verfügbar sind.
Doch wirklich entfalten kann sich Relevanz erst in jenem magischen Moment, in dem ein Werk auf Augen, Ohren, Geist und Herz trifft.
Lippenbekenntnisse beschwören zwar regelmäßig das Gegenteil, doch die kommerzielle Relevanz von Filmen wird hierzulande stiefmütterlich behandelt, vor allem ihre nachhaltige Form. Wir sind weit entfernt von einem lebendigen, vielfältigen, wirtschaftlich zuverlässigen Film-Ökosystem, das vor allem auf Subventionen setzt, um thematische und künstlerische Nischen zu beleben und gelegentlich riskante Mainstream-Projekte zu ermöglichen. Die herrschende Asymmetrie hat viele Gründe. Evaluation ist nicht vorgesehen. Misserfolge werden nicht nachhaltig analysiert, weitblickende Slate-Strategien sind selten. Nach wie vor ist unter Kreativen die Haltung weit verbreitet, Filme „nicht für ein Publikum zu machen“. Ja für wen denn bitte sonst? Der Dialog mit dem Auditorium, direkt oder indirekt, wohnt doch darstellenden Künsten inne. Die audiovisuelle Sichtbarmachung geschriebener Worte und Konzepte ist ganz logisch an die Wahrnehmung durch Rezipienten gerichtet. Kommerzielle Relevanz ergibt sich nicht aus phantasievollen Zahlen, die man auf Papiere schreibt, sondern aus der Auseinandersetzung mit Konsumverhalten, Zielgruppen, Trends und deren Prognosen, da zwischen Konzeption und Veröffentlichung von Filmen oft Jahre liegen. Sie zielt auf zusätzliche Wertschöpfungsmöglichkeiten – Fortsetzungen, den Transfer in andere Medien oderMerchandise. Kommerzielle Relevanz zeigt sich nicht nur in absoluten Zahlen, sondern vielmehr im Verhältnis des Aufwands zum erzielten Ergebnis, und diese Größe ist hervorragend messbar. Dem hierzulande gut geübten Snobismus zum Trotz kann eine wirtschaftlich nachhaltige Filmlandschaft – die mehr Ressourcen schafft als verbraucht – beweglicher und mutiger sein, um diesen viel zu oft und irreführend gebrauchten Begriff zu bemühen.
Gesellschaftliche Relevanz ist ein ausführlichst diskutierbares Feld, auf dem die Messung von Daten zwar mit Interpretation und Aufwand verbunden, aber eben doch möglich ist. Bekannt sind Presse-Clippings von betreuenden Agenturen zu Filmstarts. Doch worüber sollte Filmjournalismus berichten, wenn nicht über Filme? Interessant ist eher, ob Filme und Serien in andere Bereiche der Berichterstattung hineinsprießen, ob ihre Themen eine Diskussion über das Feuilleton hinaus anstoßen und in den Alltag von Menschen abstrahlen. Dieses „Überschwappen“ in die alltägliche Ebene ist heutzutage besser messbar als je zuvor. Die Beobachtung von Aktivität in sozialen Medien zu Kinostarts und Serien gehört in anderen Ländern zum Standard, in Territorien, wo es Filmschaffenden tatsächlich schadet, wenn sich ihre Investitionen nicht in Publikumsresonanz niederschlagen. Sicher spielen regionale und soziale Besonderheiten eine Rolle. Serien, die bei TikTok trenden, können z.B. unter dem Facebook-Radar laufen. Umso wichtiger ist es, in diesem Bereich auf Transparenz und Professionalisierung zu setzen. Das Feuilleton ist nach wie vor relevant, jedoch nur eine Stimme von vielen. Das Narrativ vom Pioniergeist, mit dem man Filmperlen im Festival-Ozean findet und das gemeine Volk auf deren Ankunft vorbereitet (mit zeitlich großem Vorlauf und so verargumentiert, dass Widerspruch zur vorgelegten Deutung natürlich als Unverständnis für Kunst und Kultur gewertet werden muss), ist heute ein Mythos und wurde überholt auf der Internet-Autobahn. Gern gerät der Fakt in Vergessenheit, dass Film meist eine kollaborative Disziplin ist, und nicht die Selbstverwirklichung einzelner Köpfe, die auf willfähriges Personal zugreifen. Doch das Thema persönliche Relevanz (für die Macher) würde hier den Rahmen sprengen und bekommt zudem bereits sehr viel Aufmerksamkeit, die persönliche Verantwortung hingegen weniger. Denn wie kann jemand, der oder die sich nicht einen Gedanken über die Rezeption des eigenen Beitrags zu einem kollektiven Werk gemacht hat, die Verantwortung für dessen erfolgreiche Durchführung übernehmen – für das Herzblut, die Lebenszeit, die Energie und Kreativität aller, die sich an der Umsetzung beteiligen? Für mich selbst beginnt die Auseinandersetzung mit dem Thema Relevanz erst. Das Argument, Regisseur XY habe „schon immer einen teuren Film“ machen wollen, darf aus meiner Sicht nicht mehr zum Aushebeln aller Vernunft im Blick auf kreative Entscheidungen führen. Sätze wie „Ich denke nie ans Publikum“, sofern sie aus Überzeugung geäußert werden und nicht als Koketterie, sollten als der (Selbst)betrug offengelegt werden, der sie sind. Auch den Mythos, Kreative würden selbst bestimmen, ob ihr Stoff Relevanz hat, darf man getrost begraben. Sie pflanzen die Potenziale dafür und verstärken sie. Doch wirklich entfalten kann sich Relevanz erst in jenem magischen Moment, in dem ein Werk auf Augen, Ohren, Geist und Herz trifft.
Auf dem Weg dahin sind wir dramaturgisch Tätigen wichtige Verbündete. Gemeinsam mit allen kreativ an Filmen und Serien Beteiligten sind wir in der Pflicht, die Relevanz der Vorhaben in jeder Entstehungsstufe zu prüfen, zu bereichern, zu messen und zu evaluieren. Sonst bleiben Drehbücher, Konzepte oder Ideen eben nur Worte ohne Widerhall.