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Representation matters! Reicht aber nicht aus.

Warum Repräsentation gut für die Sichtbarkeit von Vielfalt ist, aber schlecht für die Vielfalt im Storytelling.

Das Ergebnis der mehr oder weniger intensiven Debatten über Diversität, Inklusion und Antidiskriminierung in der deutschen Medienbranche der letzten Jahre ist bereits auf den Bildschirmen und Leinwänden zu sehen. Und sehen ist hier wichtig, denn darum geht es: Diversität muss sichtbar sein. Manchmal, wie einige der entstandenen Formate zeigen, sogar mit marginalisierten Figuren im Zentrum der Geschichten. 

Die einst heiß geführten Debatten kühlen sich in der aktuellen politischen und wirtschaftlichen Krise der Branche gerade schnell ab und die kritischen Stimmen werden lauter: Diversität schränke die künstlerische Freiheit ein. Formate, die sich Diversität auf die Fahne geschrieben haben, seien zu klischeehaft, zu politisch korrekt oder betrieben reines Diversity Washing. Gewünscht wird allerseits, dass Diversität Inhalte nicht verhunzt, nicht politisch ist und vor allem: sich normal anfühlt, authentisch ist! 

Stichwort Authentizität

Das Instrument, das sowohl gegen Stereotype als auch eine echte Diversität unterstützt, scheint vor allem eines zu sein: Authentizität. Der Wunsch ist nicht nur, “divers” zu erzählen, sondern Diversität auch authentisch darzustellen. Der Begriff meint in etwa, so zu erzählen, wie es “in echt” ist. Auf jeden Fall nicht künstlich - und damit auch nicht stereotypisch, sondern: Wie es ist! Oder sich anfühlt. Kunst lebt jedoch von der Spannung zwischen Realität und Fiktion! Ist die Kunst echt im Sinne von real, ist sie nicht mehr Kunst. Ist sie eine reine, losgelöste Fiktion, hat sie keine Haftung. Authentizität kann der Klebstoff sein, der ermöglicht, dass etwas Fiktives sich real anfühlt. Doch Authentizität im Storytelling sollte niemals im Sinne von real oder echt verstanden werden. Vielmehr ist sie in diesem Fall eine neue Zusammensetzung, eine Re-Inszenierung von Teilen der Realität, die diese ohne aufklärerisch sein zu wollen, reflektieren. Das bessere Wort in diesem Fall ist: Glaubwürdigkeit.

Wenn die Bestrebung nach Authentizität an der Frage des Realismus haften bleibt, entstehen normative Geschichten. Realität meint hier kaum die Normalität marginalisierter Gruppen. Realismus wird in diesem Fall mit der Erfahrung von Diskriminierung gleichgesetzt und damit mit einem erschwerten Leben, mit dem Opfer-Sein. Als bestünde die Realität marginalisierter Menschen ausschließlich aus ihrer Diskriminierungserfahrung. Als gäbe es überhaupt eine einzige marginalisierte Realität und einen einzigen Umgang mit Diskriminierung. Als würde es auch keine Intersektionalität geben. Und als würden die Menschen sich gern mit ihrer Marginalisierung schmücken. Hier definiert die Dominanzgesellschaft, was im Leben der Anderen* authentisch ist und macht Identität erst zum Problem. Behoben wird das Problem durch das Streben nach einem Leben in der Dominanzgesellschaft, durch Anpassung. Unsichtbar bleiben dabei die strukturellen Probleme, die überhaupt erst zu Marginalisierung führen. Unsichtbar bleiben auch die vielfältigen Normalitäten marginalisierter Gruppen. 

© Pixabay

Das patriarchale Narrativ

Ein Sprichwort, dessen Herkunft oft als “afrikanisch” beschrieben wird, besagt: “Solange die Löwen nicht schreiben lernen, wird jede Geschichte die Jäger verherrlichen.” Das patriarchale Narrativ tut genau das: Es verherrlicht die Jäger, rechtfertigt die Jagd, indem es die Löwen objektiviert und erwartet, dass sie die Kulturtechnik “Schreiben” der Jäger erlernen. Das zeigt: Selbst das kritische Sprichwort kann sich nicht außerhalb des unterdrückerischen Systems bewegen. Wer aus der Mitte der Dominanzgesellschaft heraus erzählt, tut genau das und übernimmt das Narrativ von “Wir und die Anderen”. Das patriarchale Narrativ beschreibt die Perspektive von privilegierten auf marginalisierte Menschen. Es ist ein objektivierendes Narrativ, das Unterdrückung immer wieder stabilisiert. Das patriarchale Narrativ ist eines, das aus marginalisierten Körpern Objekte macht und zwar auch dann, wenn diese Körper Protagonist*innen sind. 

Die Autorin Nicolette Barischoff hat gesagt: „Wenn eine Figur mit Behinderung über nichts anderes als ihre Behinderung nachdenkt, dann zeigt mir das, dass auch die Autor*innen über nichts anderes nachgedacht haben. Sie können sich nicht vorstellen, wie man in meinem Körper lebt und arbeitet und spielt und flirtet und Sex hat, nicht einmal für ein paar Absätze.“ Wer mit dem patriarchalen Narrativ brechen möchte, tut also gut daran, Figuren aus marginalisierten Gruppen zu Subjekten zu machen. Das bedeutet, ihre Normalitäten und ihre Lebensentwürfe anzuerkennen, einzubeziehen und aktiv in die Dramaturgie einzusetzen. Erfahrungen mit Marginalisierung müssen nicht explizit erzählt werden, aber sie prägen Persönlichkeit und Lebensentscheidungen. Sie sollten berücksichtigt werden – ganz egal, welches Genre erzählt wird. Um Stereotype zu vermeiden, sollten alle Figuren dennoch mehr sein als nur ihre marginalisierte Identität. 

All das führt zu der Frage: Was wäre eine angemessene Dramaturgie für unsere Zeit? Was wäre ein Narrativ der Anderen*, in der Vielfalt nicht allein für Repräsentation steht und Figuren als defizitäre Objekte darstellt, sondern für eine neue Form des Erzählens? 

The Sisterhood’s Journey

Eine angemessene Dramaturgie für unsere Zeit muss die Gesellschaftsordnung in Frage stellen. Sie muss auf Komplexität in den Charakteren und in der Handlung bestehen, anstatt sich mit Stereotypen und Funktionalitäten der Figuren zufrieden zu geben. Marginalisierte Figuren stehen nicht mehr in Relation zu den privilegierteren, sondern im Zentrum der Erzählung. Und zwar im Kollektiv. Denn: Wie viel Macht hat das Individuum allein in einer gewaltvollen Gesellschaft, die nur für einige wenige gut ist, wie sie ist? Wenn Figuren aus marginalisierten Gruppen zu Subjekten gemacht werden, die entsprechend ihrer Erfahrung mit Marginalisierung, ihren Gefühlswelten und Lebensentwürfen handeln, entsteht eine kongruente Erzählung, die im besten Sinne glaubwürdig ist. Dieses neue Narrativ sprengt die lineare, kausale Struktur, die der Normalität der Dominanzgesellschaft folgt. Der rote Faden der Geschichte ist weniger bei Figuren und Handlung als bei den Gefühlen, die beim Publikum geweckt werden.

Dafür schlagen wir ein neues dramaturgisches Modell vor: The Sisterhood’s Journey. Und hier soll Sisterhood als alle umfassend verstanden werden und somit als Gegensatz zur Herrschaft, Dominanz und Macht. Sisterhood als widerständige Praxis gegen strukturelle Unterdrückungsmechanismen. Als ein Narrativ, das Schmerz anerkennt und Differenz feiert. 

Eine dramaturgische Arbeit, die Autor*innenschaft in ihre Praxis einbezieht. Aus welcher gesellschaftlichen Perspektive erzähle ich? Welche Erzählungen sind aus dieser Perspektive aus möglich? Was sehe ich nicht? Warum bin ich die richtige Person, um diese Geschichte zu erzählen? 

Eine dramaturgische Arbeit, die das Publikum in ihre Praxis einbezieht. An wen richte ich mich? Wen schließe ich aus? Auf welche emotionale Reise möchte ich das Publikum schicken? Mit welchen Fragen möchte ich das Publikum beschenken?

The Sisterhood’s Journey erfordert von Autor*innen eine besondere Präzision und Reflexion in der Arbeit mit den Figuren, Settings und Handlungen, am besten in Form einer dichten Beschreibung. Der Ausdruck kommt vom englischen Philosophen Gilbert Ryle und wird von Clifford Geertz verwendet, um “die besondere geistige Anstrengung” zu beschreiben, die in der ethnologischen Feldforschung und Analyse angestrebt wird und sich von einer dünnen Beschreibung unterscheidet. In einer dünnen Beschreibung werden Fakten und Daten einer fremdartigen Wirklichkeit gesammelt und vornehmlich aus der eigenen Perspektive beobachtet, eingeordnet und verstanden. In der dichten Beschreibung dagegen werden drei Ebenen berücksichtigt: die der Empirie, was die Menschen tun/sagen; die der Bedeutung, was das Tun/Sagen im spezifischen Kontext bedeutet; und schließlich die Ebene der Metanarrative, “die das Handeln der Menschen bestimmt, ohne dass sie den jeweils Handelnden bewusst ist.” Dünne Beschreibung arbeitet mit Stigmata, Normen, Stereotypen, Klischees, Typologien; dichte Beschreibung dagegen mit Sinn und Bedeutung. Es geht um die Überlagerung von Bedürfnissen, Werten, Interessen, Glaubenssätzen, Hoffnungen und Ängsten aller an diesem Prozess Beteiligten.

In der dramaturgischen Arbeit mit The Sisterhood’s Journey wird die Haltung der Figuren zur Dominanzgesellschaft und zur Erfahrung mit Ausschluss und Diskriminierung präzise definiert und in der Handlung berücksichtigt. Zieht sich die Figur zurück, um erneute Verletzungen und Traumata zu vermeiden? Sucht sie Safer Spaces? Verlangt sie nach einem Platz in der Dominanzgesellschaft? Verbündet sie sich dafür mit anderen? Kämpft sie allein? Glaubt sie gar, dass alle sowieso ein bisschen anders seien und erst das Sprechen darüber das Problem verursacht? Hat die Figur vielleicht noch gar nicht erkannt, dass der Schmerz, der ihr zugefügt wird, nicht individuell – nicht ihr allein gilt, sondern strukturell ist?

Eine Figur mit Marginalisierungserfahrung kann die Räume, die sie betritt, nicht immer freiwillig auswählen und sie ist nicht in jedem Raum, den sie betritt oder betreten muss, sicher. Sie kann durch kulturelle Codes und Regel jedoch Räume kreieren oder die erobern, die zum Teil unter dem Radar der Dominanzgesellschaft existieren. Das sind zum Beispiel die Shisha Bars für manche Migrant*innen oder migrantisierte Menschen, das Sich-gegenseitig-Erkennen der Menschen aus der LGBTTIQ-Community oder für viele Frauen Beautysalons, Hamams, Frauensaunen. Die Strategien, die das Handeln der Figur in selbst gewählten oder unfreiwillig betretenen Räumen, stehen im direkten Zusammenhang mit ihrer Haltung zur Dominanzgesellschaft. Präzise gewählte Settings sind also notwendig für die Geschichte. 

The Sisterhood’s Journey ist niemals eine individuelle Reise, obgleich das nicht heißt, dass ausschließlich Ensemble-Geschichten erzählt werden. Die Handlung berücksichtigt, dass die Figur erkennt – vor oder während der Erzählung, dass die Narbe, die nie heilt, nicht durch eine individuelle, sondern durch eine strukturelle Verletzung zugefügt wurde. Diese Figur wird begleitet. Durch ihre Familie, befreundete Menschen oder chosen family, durch andere, die ein ähnliches Schicksal haben oder hatten, durch ihre Erzählungen – in der Gegenwart oder aus der Vergangenheit. Durch ihre wie auch immer geachtete Begleitung bestimmt und erkennt die Figur ihre Identität an, sie findet eine Sprache dafür. Und sie muss Entscheidungen in Bezug auf ihre Situation in der Dominanzgesellschaft treffen, die mehr oder weniger radikal sind. 

Ist das alles tatsächlich neu? Wie auch andere dramaturgische Modelle ist auch The Sisterhood’s Journey das intellektuelle Erfassen und Systematisieren eines bereits vorhandenen Narrativs. In unserer analytischen Arbeit, die noch lange nicht abgeschlossen ist, können wir u.a. diese Filme erwähnen: WOMEN TALKING (auf Deutsch DIE AUSSPRACHE) von Sarah Polley aus dem Jahr 2022, DUMPLIN‘ von Anne Flechter aus dem Jahr 2018, basiert auf dem gleichnamigen Young-Adult-Roman von Julie Murphy aus dem Jahr 2015 und PORTRAIT OF A LADY ON FIRE (auf Deutsch PORTRÄT EINER JUNGEN FRAU IN FLAMMEN) von Céline Sciamma aus dem Jahr 2019.

Erzählen ist und wird immer politisch sein

Wenn wir erzählen, verfestigen wir entweder die Strukturen, die in der Gesellschaft herrschen, oder wir stellen sie in Frage und schlagen neue Formen des Zusammenlebens vor. Unsere Zeit braucht neue Gesellschaftsentwürfe, neue Ideen, wie wir zusammenleben wollen. Die U.S.-Autorin Ursula K. Le Guin hielt die Vorstellungskraft für das mit Abstand nützlichste Werkzeug, das der Menschheit zur Verfügung steht. Imaginierte Alternativen zu aktuellen hierarchischen Lebensweisen sind eine Form des Protests, der an der gegenwärtigen Vorherrschaft rüttelt und damit eine Gefahr für alle ist, die vom aktuellen System profitieren. Le Guin bekräftigt, dass die Vorstellungskraft eine ist, die abseits von Bildung und Diskurswissen besteht. Sie ist also anders als das intellektuelle Konzept der Utopie. In ihr liegt eine echte Chance für Revolution, weil sie sich nicht der Werkzeuge der Herrschenden bedient, sondern eigene hervorbringt. Die Vorstellungskraft von marginalisierten Körpern ist ein Instrument des Widerstands gegen die aktuellen Zustände und eine Demontage des Glaubens an bestehende dramaturgische Modelle als die einzige natürliche, universelle Option. “Etwas Wahres zu imaginieren”, ist alles zugleich: Überlebensstrategie, Protestform und Quelle für neue Erzählweisen!