Sascha hat es von der ostdeutschen Provinz in ein renommiertes Literaturstudium in Wien geschafft, wo er Ali kennenlernt und sich das erste Mal mit seiner verdrängten Homosexualität auseinandersetzt. Als aber sein Vater zu Besuch kommt wird Sascha bewusst, was ihn immer von einem Akademiker-Kind wie Ali trennen wird. Aus Scham vor der eigenen Herkunft beginnt Sascha, vermeintliche Klassendifferenzen auf Ali zu projizieren – und macht damit die noch frische Beziehung zur Zerreißprobe.
Wer darf was und wie erzählen? VeDRA-Mitglied Niklas Pollmann beleuchtet in RÜCKKEHR NACH RIESA zusammen mit seinem Co-Autoren Emre Çakir auf packende Weise Themen wie Herkunft, Liebe und die Fallstricke klassistischer Debatten. Dafür wurden sie für den Deutschen Drehbuchpreis 2025 nominiert, der am 14. Februar im Rahmen der Berlinale beim Empfang des Deutschen Drehbuchverbands verliehen wird.
Wir gratulieren und bedanken uns für den nachfolgenden Einblick in die Entstehung von RÜCKKEHR NACH RIESA.
WP: Das Drehbuch thematisiert den Kontrast zwischen akademischem Milieu und ostdeutscher Provinz. Was für eine Rolle spielten Klasse und Herkunft beim Schreibprozess?
Die ganz zentrale Rolle, würde ich sagen. Emre und ich sind beide nicht mit den goldenen Löffeln bildungsbürgerlicher Provenienz aufgewachsen. Wir kennen diese merkwürdige, in beide Richtungen offene Scham von transclasse-Erfahrungen, also sogenannten Aufsteiger-Biografien sehr gut. Einerseits, sich im akademischen Milieu fremd zu fühlen, mit einem unschicklichen Habitus oder aber dem Gegenteil, der angelernten Überkompensation aufzufallen. Andererseits aber auch den „verinnerlichten Blick“ der eigenen Herkunft in sich zu spüren. Sich immer zu fragen, wie würden Verwandte oder Freunde aus der Heimat über das denken, was du gerade machst oder sagst. Ist das vielleicht sogar eine Form von Verrat? Irgendwie empfinden wir das deswegen auch als eine Aufgabe für uns, zwischen den Milieus zu kommunizieren, weil das auch eine riesige gesamtgesellschaftliche Herausforderung ist, die viele noch nicht vollständig begriffen haben. Deswegen macht es mich oft regelrecht wütend, wenn ich das Gefühl habe, dass von der einen oder der anderen Seite gesellschaftliche Spaltung blind vorangetrieben wird. Und da das großstädtisch-bürgerliche Milieu nur Didier Eribons RÜCKKEHR NACH REIMS lesen müsste, um diese Mechanismen zu begreifen, nehme ich das vielleicht eine Spur härter in die Pflicht.
WP: Die Jury hat das Drehbuch als „eine ergreifende und erhellende Erzählung“ bezeichnet. Was bedeutet dir dieses Lob, und wie viel von deiner persönlichen Erfahrung steckt in RÜCKKEHR NACH RIESA? Wie seid ihr auf Riesa gekommen?
Emre und ich haben beide unabhängig voneinander Didier Eribons Buch verschlungen, weil es viel mit unseren eigenen Erfahrungen zu tun hat. Man könnte natürlich die gesellschaftliche Peripherie überall erzählen. In der westdeutschen Provinz oder auch einem Brennpunktviertel in Linz, aber letztlich war es uns – neben der phonetischen Nähe von Riesa und Reims – wichtiger, soziologisch ideale Entsprechungen zu finden, als unsere eigenen Herkünfte in den Vordergrund zu stellen. Ostdeutschland ist nun einmal das offensichtlichste deutsche Äquivalent zu der nordfranzösischen Arbeitergegend aus der Eribon stammt. Diesen Gegensatz wollten wir in aller Eindringlichkeit aufmachen.
WP: Habt ihr während des Schreibprozesses Rückmeldungen von Personen aus den dargestellten Milieus eingeholt? Wenn ja, zu welchem Zeitpunkt in der Entwicklung des Stoffs und wie haben die Erkenntnisse den Prozess gelenkt?
Klar, das muss man immer machen. Egal, welche Geschichte man erzählt. Und ich liebe das. Meistens komme ich bereits mit einer relativ weiten Handlungsidee an die Personen heran und gebe ihnen dann einen völligen Freischein, alles unglaubwürdig, unrealistisch, unwürdig usw. zu finden. Und wenn dann ein Feedback zurückkommt, dass irgendwas noch nicht stimmt, dann löst das meistens ohnehin Ideen aus, die noch besser sind als meine bisherige Annahme. Aber mir ist noch nie passiert, dass ich nach so einem Gespräch gemerkt habe: Fuck, jetzt macht die ganze Handlung keinen Sinn mehr.
Repräsentation ist wichtig und wir werden in Zukunft wohl genug Arbeit haben, dass die Errungenschaften auf diesem Gebiet nicht von rechts zurückgedreht werden.
WP: Die Frage „Wer darf was und wie erzählen?“ spielt in eurem Drehbuch eine zentrale Rolle. Wie stehst du persönlich zu dieser Debatte, und wie hat sie euer Schreiben beeinflusst? Es wird viele Menschen geben in Deutschland, die sagen, dass Ostdeutsche Geschichten bzw. Figuren besser von Ostdeutschen selbst erzählt werden.
Absolut, diese Frage ist natürlich total zentral – sowohl in der gesamten Kulturbranche als auch konkret in unserem Drehbuch, das ja auch in der Kulturbranche angesiedelt ist. Repräsentation ist wichtig und wir werden in Zukunft wohl genug Arbeit haben, dass die Errungenschaften auf diesem Gebiet nicht von rechts zurückgedreht werden. Allerdings nehmen wir Repräsentation von Klasse in Film und Fernsehen als nochmal besonders dürftig wahr. Und gleichzeitig, so ehrlich müssen wir sein, hat sich diese Identitätsdebatte in den letzten Jahren auch ganz schön verrannt. RÜCKKEHR NACH RIESA adressiert diese Debatte eben in einer offenen und provokativen Form. Wir wollen da lieber Widersprüche aufzeigen, als uns in so ganz klaren politischen Botschaften oder Haltungsnoten aufzuplustern. Als Autor und politischer Mensch, glaube ich aber, dass uns diese Singularisierungstendenzen in der Gesellschaft nicht mehr weiterbringen, sondern es an der Zeit ist, wieder genau zu schauen, was uns eigentlich verbindet, statt nur nach Trennendem zu suchen. Vielleicht endet deswegen unser Drehbuch auch mit einer optimistischen Note der (Wieder-)Annäherung.
WP: Wie war die Zusammenarbeit mit deinem Co-Autor Emre Çakir? Welche Dynamik herrschte zwischen euch, und wie habt ihr die unterschiedlichen Perspektiven miteinander verbunden? Habt ihr zusammengeschrieben oder gab es eine klare Arbeitsteilung?
Emre ist hauptberuflich Schauspieler, unsere Arbeitsteilung war da schon recht asymmetrisch. Wir haben zusammen die Handlung entwickelt, viel miteinander geredet, Figuren und Subplots ausgearbeitet usw. Das reine Schreiben war dann aber mein Job. Ich hatte lange ein bisschen die Unsicherheit, ob man das überhaupt eine Co-Autorenschaft nennen würde, aber dann meinte mein Drehbuchprofessor zu mir „Klar, wieso nicht. Co-Autorenschaften können unterschiedlichste Formen haben.“ Und ich kann das nur weiterempfehlen, nach allen möglichen Formen von Co-Autorenschaft zu suchen. Das Wichtigste daran ist, dass man einander und dem Buch guttut.
WP: Was schätzt du am meisten an der Arbeit zu zweit? Wie habt ihr kreative Meinungsverschiedenheiten gelöst?
Meinungsverschiedenheiten gab es tatsächlich keine, ob man das glaubt oder nicht. Und wenn dann nur freundschaftliche über Themen abseits des Drehbuchs. Es gab aber natürlich hitzige Diskussionen über die erzählerische Richtung, insbesondere am Anfang des Prozesses. Und zwar hatten wir am Anfang eigentlich die Idee, dass unsere Hauptfigur einen Migrationshintergrund haben müsste. Aber um das Klassenthema besonders eindringlich zu erzählen, erschien uns das dann mit einem Deutschen und der Ironie einer Liebesgeschichte zu einem migrantischen Bildungsbürger näher am Punkt. Aspekte von Klassendifferenzen innerhalb migrantischer Communitys, wie zum Beispiel der türkischen, werden für unser nächstes Drehbuchprojekt aber dann das große Thema werden. Auch darüber wird nämlich viel zu wenig gesprochen und das reizt uns als Autoren, thematisch dahin zu gehen, wo noch ein ohrenbetäubendes Schweigen herrscht. Wir wollen Befunde ausheben, über die man dann ergebnisoffen diskutieren kann.
WP: Gibt es ein bestimmtes dramaturgisches Modell oder eine Theorie, die deine Arbeit besonders prägt?
Nicht wirklich. Ich glaube, Drehbuchtheorien und Strukturmodelle zu nutzen ist ein bisschen wie bei einer Schauspielerin, die einen Text lernt. Es ist gut, wenn man ihn gelernt hat, aber im Moment der Arbeit muss er dann genügend verinnerlicht sein, dass man damit frei drauf los schwimmen kann, es dem gemäß der Geschichte anpassen kann und vielleicht sogar mit der Sicherheit des Gelernten ganz frei improvisieren kann. RÜCKKEHR NACH RIESA ist weit davon entfernt ein (für meine Verhältnisse) besonders unorthodox erzähltes Buch zu sein, aber wir haben beim Schreiben nie an irgendwelche Modelle gedacht. Höchstens mal, dass wir gesagt haben: „Okay, das ist jetzt ungefähr der Klimax“, „hier ist die Exposition vorbei“, „an der Stelle muss es richtig knallen“...
WP: Inwiefern hilft dir dein dramaturgischer Hintergrund, deine eigenen Drehbücher zu verbessern? Gibt es typische dramaturgische „Fallen“, die du bewusst vermeidest?
Dramaturgisches Wissen ist ja erst einmal nur ein geschulter Geschmack oder ein Gespür. Ich glaube, da kann man keine Regeln und Richtlinien als solche definieren. Und somit kann man auch nicht sagen, was ein Fehler wäre und was nicht. Das ist ja das Schöne daran! Wenn man aber viele Filme schaut und Drehbücher liest, gewinnt man vielleicht so etwas wie einen Horizont, was die Utopie von diesem oder jenem Stoff sein könnte. Und das kann natürlich auch den eigenen Stoff betreffen. Aber nochmal: Dieser Horizont, das ist etwas Vorsprachliches, Gefühltes. Und genau deswegen glaube ich noch nicht so wirklich daran, dass die K.I. uns so schnell unsere Jobs wegnehmen wird. Das Problem in Film und Fernsehen ist ja jetzt schon, dass mit standardisierter, mechanisiert-berechneter Plotpoint-Dramaturgie zu viel gearbeitet wird, und nicht zu wenig.
WP: Habt ihr die KI an irgendeinem Punkt im Prozess genutzt?
Nein. Nur bei der Gagenverhandlung für den Drehbuchvertrag haben wir ChatGPT mal gefragt, wie viel man für ein drehbuchpreisnominiertes Buch verlangen darf (lacht).