Dramaturgie und feministisches Storytelling in Nora Fingscheidts THE OUTRUN
„Ich will nicht das tote Mädchen sein, oder Daves Frau. Aber ich will auch keine starke weibliche Hauptfigur sein, wenn sich meine Macht vor allem durch Gewalt und Herrschaft, Eroberung und Kolonisierung definiert. Manchmal bekomme ich ein Gefühl dafür, wie sie sein könnte. Eine wirklich freie Frau. Aber wenn ich versuche, sie in die Heldenreise einzubauen, verschwindet sie wie eine Fata Morgana von der Bildfläche. Sie sagt zu mir: 'Brit, die Heldenreise ist ein jahrhundertealter erzählerischer Präzedenzfall, der von Männern geschrieben wurde, um Männer zu mythologisieren. Ihr Muster ist ein anregendes Ereignis, steigende Spannung, explosiver Höhepunkt und Auflösung. Woran erinnert dich das?' ‚An einen männlichen Orgasmus‘, sage ich, und sie sagt: 'Richtig. Ich liebe den Bogen der männlichen Lust. Aber wie konntest du mich ins Leben rufen, wenn ich nur die Choreographie seiner Lust befriedigen muss?' Und ich sage: 'Schön für dich. Aber wie bringe ich dich dann zum Existieren?' Dann höre ich nur Schweigen.“ – Brit Marling (THE OA), New York Times 2011
Einleitung
Die Regisseurin Brit Marling beschreibt in ihrem Essay „I don’t want to be the strong female lead“ in einem Gastbeitrag der New York Times eine grundlegende Kritik an gängigen (Film-) Narrativen: Weibliche Figuren werden oft entweder als Opfer oder als „starke Frauen“ dargestellt, deren vermeintliche Macht sich durch Attribute wie Gewalt und Dominanz definiert. Sie fragt dort: „Wie könnten Frauen in Geschichten wirklich frei sein, wenn ihre Rollen nur die Choreografie einer männlichen Lustbefriedigung sind?“ Ihre Worte regen dazu an, etablierte Strukturen wie die klassische Heldenreise zu hinterfragen, da sie, so Marling, „ein jahrhundertealter erzählerischer Präzedenzfall ist, der von Männern geschrieben wurde, um Männer zu mythologisieren“.
Nora Fingscheidt meidet nun (neben einigen weiteren, preisgekrönten Filmschaffenden) in ihrem Film THE OUTRUN ebendiese klassische Choreografie der Heldenreise nach Joseph Campbell und stellt somit einen bedeuten Teil des aktuellen Paradigmenwechsels dar. Basierend auf Amy Liptrots autobiografischem Roman erzählt der Film von Rona, einer studierten Meeresbiologin, die nach Jahren des Alkoholismus und eines selbstzerstörerischen Lebens in London zur Suchtbekämpfung in ihre Heimat auf die Orkney-Inseln zurückkehrt. Fingscheidt verzichtet in ihrer Erzählung auf die typisch lineare Entwicklung ihrer Heldin. Sie strebt keinen klaren Wendepunkt oder eine Apotheose im Sinne Campbells an, was keinesfalls bedeutet, dass der Spannungsbogen dabei in sich zusammenfällt. Stattdessen wählt sie eine stark naturalistische Erzählweise, die Momentaufnahmen von Ronas Heilungsprozess zeigt und deren innere Kämpfe, Rückschläge und stille Fortschritte ohne konventionelle Dramaturgie in den Mittelpunkt stellt.
Inhaltliche Verortung und thematischer Fokus von THE OUTRUN
Ein zentrales Merkmal von THE OUTRUN ist die Weigerung, eine klare Transformation oder Erlösung als Auflösung eines Dilemmas im Stile einer Klimax zu inszenieren. Rona kämpft nicht gegen einen äußeren Antagonisten. Ihre inneren, destruktiven Impulse werden nicht ins Äußere verlegt und als personifizierter Antagonismus dargestellt, sondern als Fragmente ihres Seins verstanden und gezeigt. Die Sucht, die verschwommene Scham über ihre Vergangenheit, ihre sozialen Ablehnungen im Freundeskreis und die komplizierte, ambivalente Beziehung zu ihren Eltern; all das erkennen wir in dem fragmentierten (Selbst-) Bild einer Person, die mit sich selbst kämpft. Der Film zeigt zudem all jene Konflikte als chaotische Mikro-Konflikte, als nicht-linearen Prozess, in dem Fortschritt und Rückschritt einander ablösen.
Die rauen Landschaften der Orkney-Inseln spiegeln mit ihren windgepeitschten Klippen und ungestümem Wetter Ronas inneren Zustand wider – widersprüchlich, zerbrechend und voller (teils selbstzerstörerischer) Kraft. Die explizite Verknüpfung von Charakter und Umgebung erinnert dabei stark an die Arbeiten von Andrea Arnold (FISH TANK, AMERICAN HONEY). Arnold verwebt so beispielsweise in Fish Tank die innere Zerrissenheit ihrer Protagonistin Mia mit der urbanen, zugleich klaustrophobischen und freiheitversprechenden Umgebung. Sie sieht ihre Protagonistinnen dabei nie als Individuum, das unabhängig von Natur und Umgebung erzählt werden kann, sondern immer direkter Bestandteil derer ist. Ebenso wie Mia in FISH TANK durch das Tanzen und die Erkundung ihrer Umwelt ihren Platz in einer dysfunktionalen Welt sucht, findet Rona in der wilden Natur der Orkneys eine ambivalente Form von Trost und Herausforderung. Beide Regisseurinnen setzen auf eine visuelle Erzählweise, die Emotionen durch räumliche und atmosphärische Elemente vermittelt, anstatt sie explizit über Wort- oder Körpersprache zu kommunizieren.
Darüber hinaus lenkt THE OUTRUN den Blick von individuellen Konflikten auf systemische Zusammenhänge. Ronas Sucht wird nicht isoliert dargestellt oder als das Ergebnis einer einzigen traumatischen Erinnerung, sondern als Resultat von Isolation, gesellschaftlichen Erwartungen und den vielen kleinen traumatischen Rissen in ihrer Kindheit. Der Film verzichtet darauf, Antworten geben zu wollen, indem er sich von der Prämisse distanziert, dass alle Wunden durch eine einzige Verletzung in der Vergangenheit zu begründen wären. Und wenn es nicht die eine Verletzung gibt oder das eine Bedürfnis, das die Protagonistin bloß erkennen muss, um zu heilen, was ist das dann für eine Reise, bei der wir Rona zuschauen?
Dramaturgische Analyse: Brit Marlings Kritik und Fingscheidts Umsetzung
Die Heldenreise, die Marling als „die Choreografie eines männlichen Orgasmus“ beschreibt, – mit ansteigender Spannung, explosivem Höhepunkt und Auflösung – wird in THE OUTRUN grundlegend dekonstruiert. Statt auf ein Ziel oder eine finale Katharsis hinzuarbeiten, springt der Film in seiner Erzählung immer wieder in Fragmente der Erinnerung, springt zwischen Gegenwart und Vergangenheit, ohne die Vergangenheit als Plot Vehikel oder Erklärung für den Konflikt der Protagonistin zu nutzen.
Ein weiteres subversives Element ist der Verzicht auf einen klaren dramaturgischen Wendepunkt. Zwar gibt es eine Art Wendepunkt in der Geschichte, der wenige überraschen sollte und der sich wiederum auch schon gleich als eine Art falscher Wendepunkt im klassischen Sinne entpuppen soll. So strudelt Rona durch ihr Handeln eben nicht in ein, durch äußere Handlungsebene und innere Bedürfnis- vs. Gewohnheitsebene erzwungenes Dilemma, das sie zum Ändern ihres eigenen Handelns zwingt, wie wir es aus klassischen Heldenreisen-Erzählungen kennen. Denn sie und wir wissen schon im ersten Akt um ihre Wunde und Rona weiß auch um ihr kaum überwindbares, inneres "Dilemma", wenn man die subtil toxische Beziehung zu ihrem psychisch kranken Vater und ihrer Mutter, als ein solches bezeichnen mag. Und Rona bleibt auf der Gegenwartsebene, die im Film die Hauptebene ausmacht, aktiv in ihrem Kampf mit sich selbst. Wenn sie stürzt und alles zerbricht, bleibt ihr letztlich nur die eigene Kraft, die Liebe zu sich selbst, um wieder aufzustehen und ihre Sucht als die Art von Erkrankung anzuerkennen, die sie ist und mit der sie leben muss und von der sich nicht behaupten ließe, dass man sie mit guter Gewissheit jemals für immer besiegen könnte, also Chance auf absolute Heilung bestehe.
Statt eines großen Moments der Erleuchtung, einer wegweisenden Wachs-oder-stirb-Situation oder gar eines abschließenden Triumphs zeigt der Film immer wieder stille, intime Momente der Selbstreflexion. Fingscheidt wagt es, sich gerade diese kleinen Momente zu suchen und mit Szenen wie beispielsweise Ronas Eintauchen ins kalte Meer oder dem Singen mit Seerobben eine Einsicht und Verbindung zur Umwelt, ohne lautes Drama zu vermitteln. Jene kleinen, poetischen Augenblicke sind es, die Marlings Vision einer freien, menschlichen Protagonistin verkörpern, die sich nicht der Choreografie traditioneller Dramaturgie unterwirft.
Durch die sporadisch verstreuten Rückblenden, die wie zerbrochenes Glas auf dem Boden der Geschichte liegen, über den Rona läuft und an deren Scherben sie sich immer wieder schneidet, wird gleichzeitig verdeutlicht, dass die Vergangenheit niemals abgeschlossen sein kann, sondern stets eng mit der Gegenwart verwoben bleibt und es Teil einer jeden Reise ist, diese Erinnerungen zu defragmentieren und zu entmystifizieren.
Feministisches Storytelling in THE OUTRUN
Marling argumentiert, dass viele weibliche Figuren, die als „stark“ gelten, lediglich männliche Attribute adaptieren. Der Film lehnt neben diesen patriarchalen Perspektiven auch das weitverbreitete neo-liberale Narrativ der Selbstoptimierung ab. Rona wird nicht zu einer idealisierten Version ihrer selbst, sondern lernt, mit ihrer Unvollkommenheit zu leben, die schon durch die Erinnerungen aus Kindheit und Studentinnen-Leben ohnehin unausweichlich ist. Dies ist wohl einer der markanteren Kontraste zu Geschichten, die Heilung oder Erfolg als linearen Fortschritt, gar als Lebenssinn darstellen. Stattdessen zeigt THE OUTRUN, dass Verletzlichkeit und Scheitern integraler Bestandteil menschlicher Erfahrungen sind und die optimale Version deines Selbst nichts weiter als ein Mythos ist.
THE OUTRUN als feministischer Gegenentwurf
Mit THE OUTRUN zeigt Nora Fingscheidt, wie sich konventionelle Erzählmuster aufbrechen lassen, um Raum für eine neue Art des Storytellings zu schaffen. Der Film folgt keiner klaren linearen Entwicklung und verzichtet auf eine abschließende Lösung. Stattdessen rückt er die Widersprüche und Unvollkommenheiten seiner Protagonistin in den Fokus. Und dennoch fühlt es sich zu keinem Moment so an, als hätte die Erzählerin jemals den roten Faden aus der Hand gegeben. Vielmehr hantiert sie mit einem Knäul aus mehreren Fäden, den sie mal behutsam entknotet, andern Mals wieder mit voller Gewalt in sich zusammendrückt, nur um sich danach wieder dem sorgfältigen Entknoten dieses dichten Fadengeflechts zu widmen.
Durch die Integration von der Kritik an patriarchalen Erzählmustern à la Brit Marling bieten Filme wie THE OUTRUN oder FISH TANK eine alternative Perspektive: Eine Geschichte, die nicht auf Kontrolle, Macht, dichotome Konflikte oder Transformation abzielt, sondern auf die Akzeptanz des Chaos und der Ambivalenz des Lebens. Vergleiche mit beispielsweise Andrea Arnold zeigen, wie Fingscheidt durch die Verbindung von Charakter und Umgebung sowie die Abkehr von klassischen narrativen Strukturen ein feministisches Storytelling etabliert, das nicht nur neue Perspektiven eröffnet, sondern auch emotionale Tiefe schafft und an unseren Seherwartungen herumschraubt. Dieser Ansatz macht den Film zu einem bedeutenden Beitrag für das feministische Kino, da er nicht nur patriarchale Erzählmuster hinterfragt, sondern auch eine vielschichtige, ungeschönte Darstellung der menschlichen Erfahrung bietet. THE OUTRUN zeigt, dass wahre Freiheit nicht im Triumph über Konflikte liegt, sondern in der Akzeptanz der eigenen Widersprüche und Verletzlichkeiten – eine Einladung, das Leben in seiner chaotischen und ambivalenten Natur anzunehmen.