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The Heroine's Journey

In Kooperation mit VeDRA veranstaltete SCRIPTMAKERS in 2016 einen Workshop mit den Script Consultants Keith Cunningham und Tom Schlesinger unter dem Titel „The Heroine’s Journey for Women and Men“. Katrin Merkel hat ihn besucht und versucht für uns herauszufinden, was es mit der „power of divine love“ auf sich hat.

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Die von Stoffentwickler*innen und Dramaturg*innen oft zitierte Heldenreise, die von dem US-Mythologen Joseph Campbell (1904–1987) aufgesetzt und von dem ehemaligen Disney-Lektor Christopher Vogler (*1949) in seiner ODYSSEE DES DREHBUCHSCHREIBERS einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde, ist nach wie vor ein populäres Fragemodell, um die Entwicklung von Plots bzw. Figuren tiefenpsychologisch und auch strukturell zu durchdringen. Die US-Psychoanalytikerin Maureen Murdock (*1939) konfrontierte Campbell allerdings mit der Frage, wieso immer nur von (männlichen) Helden die Rede ist. Die Antwort war ebenso klar wie diskriminierend, und so entwickelte Murdock Anfang der 90er-Jahre ihre eigene Heroine‘s Journey. Diese war ursprünglich ein Beratungs- und Lebenshilfe-Konzept für Frauen, dient den bekannten Script Consultants Keith Cunningham und Tom Schlesinger jedoch ebenso gut als Grundlage für dramaturgische Überlegungen über moderne Erzählweisen. Denn viele Autor*innen, Berater*innen und Dramaturg*innen sind inzwischen gelangweilt von der Hero's Journey und erhoffen sich neue Impulse für die Stoffentwicklung.

Laut Schlesinger und Cunningham erzählen Heldinnenreisen dabei nicht zwangsläufig die Geschichte einer weiblichen Protagonistin. Vielmehr geht es um eine dramaturgische Spezifikation. Gemeint sind Geschichten mit komplexen Figuren und einer bestimmten erzählerischen Ausrichtung: Statt der Fokussierung auf einen einzigen äußeren Plot, der Überwindung von (äußerlichen) Hindernissen, der Selbstbehauptung und Machtgewinnung steht bei der Heldinnenreise die Entdeckung der eigenen Identität im Vordergrund. Und die Suche nach einer geschützten und schützenden Gemeinschaft, in der sich die Heldin frei entfalten und ihr Potenzial ausschöpfen kann.

“Women are born into rage, because they are immediately judged for their gender. Male characters learn rage when they are lied to about what it means to be a man.”

Maureen Murdock definierte die sogenannte Dualität, in der weibliche Helden oft gefangen sind. Diese manifestiert sich im metaphorischen weiblichen und männlichen Prinzip. Konkret oder sinnbildlich stehen Mutter und Vater für diese geschlechtsspezifischen Prinzipien. Das Weibliche erfährt in unserer Gesellschaft insbesondere aber in der Berufswelt, oft nur wenig Wertschätzung. Im dramaturgischen Modell trennt sich die Heldin deshalb – um Wertschätzung zu erlangen – im ersten Schritt zunächst von der eigenen ‚göttlichen Weiblichkeit‘.

The eight stages of the heroine's journey nach Maureen Murdock https://mythcreants.com/blog/using-the-heroines-journey/

Das bedeutet aber auch die Trennung von positiven Aspekten des weiblichen Prinzips (etwa Gemeinschaft, Fürsorge, Altruismus). Im Seminar stellte Cunningham sogar die These auf, dass für Frauen dieser Kampf um Anerkennung – im übertragenen Sinn – bereits mit der Geburt beginnt, da Frauen weitgehend in männlich geprägten Gesellschaften leben und deswegen tendenziell für ihr Geschlecht diskriminiert werden: “Women are born into rage, because they are immediately judged for their gender. Male characters learn rage when they are lied to about what it means to be a man.” Während Männer also zu selbstgerechter Empörung erzogen werden und lernen, sich als Einzelkämpfer zu behaupten, suchen Frauen eine Community, in der sie sich frei entfalten können und auch wahrgenommen werden. “The journey to find your own authentic inner voice, to find a tribe or community to express that voice in a safe way where you’re going to be heard.”

Visionen und Träume, die aus der Krise heraus entstehen, geben dabei die Richtung (der Handlung) vor. Allerdings haben Heldinnen oft, anders als ihre männlichen Kollegen, die freie Wahl, dem berühmten ‘Call to Adventure‘ zu folgen. Sich zu verweigern und einen anderen Weg zur Selbstverwirklichung zu finden ist ebenso eine Entscheidung: Männliche Helden werden oder fühlen sich in der Regel gezwungen, die Schwelle in Richtung Abenteuer zu überschreiten – Heldinnen nehmen sich die Freiheit, dies zu tun.

Auf Plotebene beginnt die Geschichte der Heldinnenreise also, wenn sich die Heldin dazu entschließt, sich gegen mangelnde Wertschätzung aufzulehnen. Besonders gut ist dies in der im Seminar gesichteten Eingangssequenz des Piloten von THE GOOD WIFE zu sehen: Alicia Florrick ist mit ihrer (weiblichen) Strategie der perfekten Politikergattin auf ganzer Linie gescheitert: Erniedrigt und bloßgestellt, ist sie gleich in der Eingangssequenz gezwungen, öffentlich zu ihrem untreuen Ehemann zu stehen. Er wandert wegen Veruntreuung in den Knast, und nun übernimmt sie mit etwas Angst, aber auch Neugierde die Ernährung der Familie und kehrt in ihren erlernten Beruf als Rechtsanwältin zurück. Dies ist auch in der Interpretation von Schlesinger/Cunningham die charakteristische Ausgangssituation für eine Heldinnenreise: Die Abwendung vom ‚weiblichen Prinzip‘ (Hausmütterchen) und die Hinwendung zum männlichen Prinzip wird quasi als Überlebensstrategie eingesetzt.

Die aus der Heldenreise bekannten Schwellenhüter sind in diesem Zusammenhang nicht unbedingt reale Figuren, es sind vielmehr kritische und ungläubige Stimmen und Meinungen, die Frauen andauernd zu hören bekommen – oder die in ihnen selber schlummern und denen sie glauben („You are not good enough!“). Diese ‘self-limiting beliefs‘ sind der größte Feind der Heldin. Kann sie diese zunächst überwinden, schaffen die zunächst erzielten Erfolge kurzzeitig Abhilfe. Doch erst die Begegnung mit der ‚Göttin (der Erkenntnis)‘ – egal ob metaphorisch oder real – kann wirklich zum Ziel führen.

Weibliche Charaktere zeichnen sich durch vielschichtige, möglicherweise widersprüchlich erscheinende Wesenszüge aus. Cunningham erläutert in einem kurzen Diskurs die Wesensmerkmale weiblicher Göttinnen aus der griechischen Mythologie. Dies geschieht allerdings nicht ohne seine Anmerkung, dass diese Göttinnen nicht als Repräsentanten bestimmter Charaktere zu verstehen sind. Eine Frau (bzw. ein weiblicher Charakter) ist nicht wie diese oder jene Göttin, vielmehr setzt sich das Wesen der Figur wie eine Farbpalette aus den verschiedenen Typen zusammen. Die US-Psychologin Jean Shinoda Bolen hat die wichtigsten Göttinnen in folgende drei Gruppen unterteilt:

Nur die Vereinigung beider Prinzipien – des Männlichen und des Weiblichen – führen zu einer emotionalen Ganzheit und damit zur vollen Entfaltung der ‚power of divine love‘.

Es gibt erstens die Jungfrauen: Diese Damen lassen sich nicht von ihrem Herzen leiten, sie sind eher auf Ergebnisse fokussiert. Zu ihnen gehört z.B. Artemis, die jungfräuliche Jägerin und Hüterin der Frauen und Kinder. Sie ist eine strenge, unzähmbare Göttin, die nicht nur Leben schenkt, sondern auch nimmt. Daneben gibt es noch Athene, die Göttin der Weisheit und der Bildung, der Strategie und des Kampfes, sowie Hestia, die für die Essenz des Seins und das Zentrum der Psyche steht. Sie hat in der Mythologie keine Verkörperung, sondern wird durch eine ewig brennende Flamme repräsentiert.

Bei der zweiten Gruppe handelt es sich um die Verwundeten/Verwundbaren. Diese Göttinnen interessieren sich für zwischenmenschliche Beziehungen: Wir haben hier Hera, die Unverstandene und Betrogene. Sie ist reizbar und eifersüchtig und die Wächterin über die eheliche Sexualität. Daneben gibt es noch Demeter. Sie steht für Fruchtbarkeit – auch der Erde, des Getreides, der Saat und der Jahreszeiten.

Und schließlich wäre da noch Persephone. Sie ist die Göttin der Toten- und der Unterwelt, sie ist empfangend und fremdbestimmt. Die alchemistisch-leuchtende Aphrodite, die Göttin der Liebe, der Schönheit und der sinnlichen Begierde, steht für die dritte Gruppe. Sie ist die Muse schlechthin, für Kreativität, Inspiration und die schönen Künste zuständig.

Bei Murdock wird das Ziel der Heldinnenreise in der Überwindung der zu Beginn unvereinbar erscheinenden Dualität zwischen männlichem und weiblichem Prinzip verstanden. Und auch Schlesinger/Cunningham bezeichnen diese letzte Stufe der Heldinnenreise als die ‚Reintegration des positiven Männlichen‘. Gemeint ist damit Folgendes:

Legt die Heldin zu Beginn ihrer Reise alle weibliche Weisheit ab, um sich mit männlichen Strategien zu behaupten, mag sie zunächst Erfolg haben, doch dann beginnen die Zweifel. Erst die Balance und die Überwindung der Dualität bringt Erlösung. Denn egal wie unterschiedlich die Wünsche und Ziele der Heldin sind oder wie widersprüchlich ihr Charakter ist: Nur die Vereinigung beider Prinzipien – des Männlichen und des Weiblichen – führen zu einer emotionalen Ganzheit und damit zur vollen Entfaltung der ‚power of divine love‘.

Anhand von Filmbeispielen (u.a. SINN UND SINNLICHKEIT, AMELIE) wurde im Seminar über verschiedene Frauentypen und die Art der Darstellung ihres Wandels nachgedacht. Es fällt zum einen auf, dass das weibliche Dilemma oft eher auf leisen Füßen daherkommt und dass sich auch die erzählte Veränderung weniger an auffälligen äußerlichen Dingen festmachen lässt, sondern unter Umständen an einer veränderten Umgebung. Die Haltung ist wichtiger als Action. Die weibliche Heldin schafft sich einen Raum/eine Umgebung, in der ihre Werte geteilt werden und in der sie ihre individuelle Weiblichkeit ausleben kann. Ebenfalls charakteristisch: Am Ende lässt sie andere an ihrer Weisheit teilhaben. Sie ‚heilt‘ nicht nur sich selbst.

Auch in ERIN BROCKOVICH lässt sich eine klassische Heldinnenreise ablesen: Das ernste äußere Thema (Umweltgiftskandal) wird im ersten Akt erst am Ende gesetzt, der Fokus liegt zunächst vollständig auf der sympathischen Hauptfigur und ihrer schlagfertigen und unterhaltsamen Art, ihr (nicht leichtes) Leben zu meistern. Doch sie fühlt sich zu Beginn auch alleine und machtlos, und das ist typisch für Heldinnen. Die verschiedenen Facetten ihrer Persönlichkeit spiegeln sich in den unterschiedlichen Beziehungen zu den Menschen um sie herum, jede Beziehung enthüllt einen anderen Teil ihres Wesens: die liebevolle Mutter, die sexy und schlagfertige Frau ebenso wie die fleißige Arbeiterin. Die verschiedenen Konfliktebenen (innerer, äußerer und Beziehungs-Konflikt) ziehen sich durch die gesamte Geschichte, einen personifizierten Antagonisten gibt es gar nicht. Und auch das passt zur Heroine’s Journey, denn Heldinnen sind in der Regel zum viel größeren Teil im Konflikt mit sich selber als mit der Außenwelt.

Da bereits die Etablierung dieser verschiedenen Konfliktebenen und auch ihre Weiterführung Zeit und Raum braucht und die Heldin unter Umständen länger braucht, um sich dazu zu entschließen dem ‘Call to Adventure‘ zu folgen, folgt die Heldinnenreise oft nicht unbedingt den klassischen Dramaturgien und ihrem Timing. Es kann sogar sein, dass die ‚Reise‘ überhaupt nicht linear verläuft, sondern in sich wiederholenden Schleifen, welche das Eintauchen in die Unterwelt und die Rückkehr in die Tagwelt auf unterschiedliche Weise immer wieder durchspielen und auf diese Weise das Bewusstsein nach und nach auf eine höhere Ebene heben. Auch müssen weibliche Heldentypen sich nicht fundamental ändern, sie müssen vielmehr wieder Kontakt herstellen zu etwas, was sie tief in ihrem Innern schon längst wussten. Eine verschüttete ‚göttliche Weisheit‘, die es gilt freizulegen.

Auch ERIN BROCKOVICH erfüllt zu Beginn nicht ihr Potenzial, ihre innere Kraft findet keine äußerliche Entsprechung. Doch wie wir alle wissen, wird sich das im Laufe der Geschichte grundlegend ändern. Gleiches erhoffen sich Schlesinger und Cunningham, indem sie Autoren und Stoffentwickler ermutigen wollen, mit der emotionaleren und in gewisser Weise ganzheitlichen Konzeption der Heldinnenreisen starke Figuren und moderne Geschichten entstehen zu lassen.

Und noch etwas habe ich von ERIN BROCKOVICH gelernt und werde es unbedingt berücksichtigen (nicht nur als Dramaturgin): Heldinnen entschuldigen sich nicht für ihren Körper, nicht für ihre Kleidung und erst recht nicht für ihre Sexualität. Ich würde sagen, da können sich die Helden jetzt mal warm anziehen ...