Hinter dem vielleicht etwas akademisch anmutenden Titel steckt eine ganz einfache Erkenntnis. Der Dirigent und Pianist Daniel Barenboim hat diese wunderbar zum Ausdruck gebracht: „Musik bedeutet Gleichgewicht. Denn Musik ist alles zugleich: Kopf, Herz und Bauch, Denken, Fühlen und Sinnlichkeit.“
Eine Partitur wird mittels des musikalischen Handwerks in einen emotional aufgeladenen Klangraum umgewandelt. Die Musizierenden sind einerseits in einer bis auf Zehntelsekunden mathematisch ausgefeilten Struktur unterwegs, Notation genannt, andererseits ist das Instrument so zu einem Teil ihrer physischen Existenz geworden, dass dieses sowohl im Klang wie in der Stille der Pausen mit emotionalen Empfindungen aufgeladen wird, und zwar mit denen, die eindeutig in der Notation geschrieben stehen, z.B. adagio un poco mosso - langsam, etwas rau bzw. langsam, etwas bewegt oder z.B. diminuendo - allmählich leiser werdend oder accelerando - allmählich schneller werdend. Es geht um Angaben zur sogenannten Phrasierung, zur Gestaltung der Töne hinsichtlich Lautstärke, Tempo, Artikulation, Rhythmik. Umgelegt auf einen Dialog im Drehbuch ist jederzeit klar, wie emotional dieser unterfüttert ist - siehe die Anweisungen in Klammer unter dem Namen der Figur (schreit wütend, flüstert tonlos, voller Zärtlichkeit, verzweifelt etc.).
Eine frühere Definition des DDV/Deutscher Drehbuchverband lautet: Das Drehbuch ist die Partitur des Films, die Verbindung aller Elemente des Films zu einer stimmigen Komposition. Partitur heißt wörtlich ‚Einteilung‘, man könnte aber auch eine Metaebene einziehen, die sich auf den Ursprung bezieht, Pars - Teil und weiter auf participare - teilhaben. Wir haben eine stimmige Komposition, die auf Basis des hoch kreativ ausgeübten, wie professionalisierten Handwerks der Harmonielehre, entstanden ist. Ein Klangraum entsteht, in dem es nicht um aktive Ausübende und passive Zuhörende geht, sondern um zwei verschiedene Zustände von Aktivität, nichts anderes bedeutet der Begriff Interaktion. Symphonie vom altgriechischen σύμφωνος sýmphōnos heißt zusammen klingend.
In der klassischen Musik befinden wir uns in einem Klangsystem, in dem alle Beteiligten sowohl musiktheoretisches Wissen, als auch die praktische Kenntnis und Erfahrung im Spielen eines Instruments beherrschen. Von der Komposition bis zur Interpretation verfügen alle Ausübenden über diese beiden Erfahrungsschätze. Kein*e Dirigent*in würde sich vor ein Orchester stellen, ohne nicht zuvor Teil des selbigen gewesen zu sein, quasi das Innenleben erfahren und gespürt zu haben. Das Dirigat, vergleichbar mit der Regie, erarbeitet speziell auf dieser kollektiven Basis eine bestimmte Interpretation innerhalb der exakten Angaben des/der Komponist*in.
Das heißt, wir haben es mit einem System zu tun, in dem jede beteiligte Person den Barenboim‘schen Dreiklang von Kopf, Herz und Bauch kennt. Umgelegt auf das Medium Film würde das bedeuten, dass alle Beteiligten vom Drehbuch über die Dramaturgie, der Regie und dem Schauspiel den gleichen Erfahrungsschatz angelegt haben, bevor sie sich spezialisierten. Dem ist aber nicht so! In jeweiligen Lehrbüchern zu Drehbuch und Schauspiel besteht selten eine Verbindung, da fehlt etwas, ein missing link. William Goldman, Drehbuchautor u.a. von Klassikern wie BUTCH CASSIDY AND THE SUNDANCE KID, ALL THE PRESIDENT'S MEN/DIE UNBESTECHLICHEN, DER MARATHON MANN, sagte einmal ziemlich direkt:
„Dialoge - das sind diese schrecklichen Zeilen, die all die wunderbaren Schauspieler sprechen müssen."
Übersetzt auf den täglichen Studiobetrieb sagen Schauspielende oft ziemlich direkt: „Bei dem Dialog höre ich das Papier rascheln.“ Das gesprochene Wort bleibt gesprochen und kann nicht zum Leben erweckt werden. Im Schauspiel gilt aber nicht das gesprochene Wort im Gegensatz zum Gericht, sondern das gelebte.
Peter Brook (1925-2022), Theater- und Filmregisseur, Visionär und Denker, schrieb 1969 in seinem Buch THE EMPTY SPACE/DER LEERE RAUM:
„Ein Wort beginnt nicht als Wort – es ist ein Endprodukt, das als Impuls anfängt und, durch Überzeugung und Verhalten beflügelt, den notwendigen Ausdruck findet. Dieser Vorgang spielt sich im Schriftsteller ab und wiederholt sich im Inneren des Schauspielers. Beide sind sich vielleicht nur der Worte bewusst, aber für beide, den Autor und den Schauspieler, ist das Wort nur ein kleines sichtbares Teilchen eines riesigen, unsichtbaren Gebildes...“
Da steckt alles Wesentliche drin - für alle Beteiligten. Das Endprodukt, in Bild und Ton auf die Leinwand gebracht, kann nur den notwendigen künstlerischen Ausdruck finden, wenn, wie Peter Brook schreibt, der Anfangsimpuls, der Moment des Entstehens zuerst bei den Autor*innen in seiner vollen Kraft stattgefunden hat. Wenn nicht, haben die Schauspieler*innen kein tragfähiges Fundament für die Verkörperung der Rolle. Umgelegt auf die Musik - es kann nicht funktionieren, wenn die Komponierenden und deren musikalische Berater*innen zwar musiktheoretisch und/oder musikwissenschaftlich hochkompetent sind, über Stradivari-Geigen alles wissen, aber noch nie eine in der Hand hielten, geschweige in der Lage sind, sie zum Klingen zu bringen?
Max Reinhardt gibt eine mögliche Antwort in seiner berühmten Rede über den Schauspieler, gehalten im Februar 1928 an der Columbia University/NY. Hier ein Ausschnitt:
"Shakespeare ist der größte und ganz unvergleichliche Glücksfall des Theaters. Er war Dichter, Schauspieler und Direktor zugleich. ... Er malte Landschaften und baute Architekturen mit seinen Worten. Er hat es dem Schöpfer am nächsten getan. Er hat eine zauberhafte, vollkommene Welt geschaffen: die Erde mit allen Blumen, das Meer mit allen Stürmen, das Licht der Sonne, des Mondes, der Sterne; das Feuer mit allen Schrecken und die Luft mit allen Geistern, und dazwischen Menschen. Menschen mit allen Leidenschaften, Menschen von elementarer Großartigkeit und zugleich von lebendigster Wahrheit. .... Alle großen Dramatiker waren geborene Schauspieler, gleichviel, ob sie diesen Beruf auch tatsächlich ausübten."
Was sagt uns Max Reinhardt damit? Shakespeare entwickelte die visual world der Geschichte, wie John Truby es nennt und stellt darin die handelnden Figuren "Menschen mit allen Leidenschaften, Menschen von elementarer Großartigkeit und zugleich von lebendigster Wahrheit" hinein. Wie kommt ein*e Drehbuchautor*in und deren dramaturgische Betreuung an die ‚lebendigste Wahrheit‘ heran?
Einen Zeitsprung ins Jahr 2022, in einem von der Regisseurin und Casterin Ulrike Putzer für Cinema Next geführten Interview mit drei jungen Schauspielenden Anna Suk, Marlene Hauser und Thomas Schubert, der ein Jahr später neben Paula Beer und Matthias Brandt in Christian Petzolds Film ROTER HIMMEL brillierte. Marlene Hauser schloss 2020 ihre Schauspielausbildung am Wiener Max Reinhardt-Seminar ab und Anna Suk kam über div. Kurzfilme in die Branche, mit etlichen Preisen ausgestattet u.a. 2017 den Max Ophüls-Preis als beste Nachwuchsschauspielerin. Kurz in die für uns wesentliche Passagen hineingelesen:
Marlene: "Mir gefällt einfach am Schauspiel – und deshalb kann ich es nicht auf eine Rolle festlegen – der Moment, in dem man vor allem mit der Spielpartnerin oder dem Spielpartner in Kontakt tritt und in diesem Spiel etwas erlebt. Das ist das, was mich an diesem Beruf und dieser Kunstform berührt."
Thomas: "Mir hat einmal jemand gesagt, Schauspieler sind Leute, die etwas erleben. Das knüpft gut daran an, was Marlene gerade gesagt hat. Das ist ja auch eine der schwierigsten Sachen, die es gilt herzustellen: wirklich im Moment sein und in der Figur den Moment erleben. Und wenn du da hinkommst, ist es das Allerbeste. Darum geht’s irgendwie."
Da ist er wieder, dieser Moment, in dem Kopf, Herz und Bauch - Denken, Fühlen und Sinnlichkeit im Hier & Jetzt stattfinden. Der Moment ‚lebendigster Wahrheit‘. Interessant, wie das Gespräch dann die Richtung wechselt:
Marlene: "Was ich vielleicht jungen Filmemacher*innen raten würde, ist einfach einmal oder öfter selbst zu spielen, um diese andere Position, die andere Seite kennenzulernen. Ich glaube, dadurch kriegt man wieder einen Blick fürs Wesentliche. Ich glaube, es ist für jede*n Filmemacher*in super, wenn er*sie einmal vor die Kamera tritt und spielt. So wie ich froh bin, dass ich mit Kolleg*innen mal im Schnittraum sitzen kann, wo ich sehe, was man verwenden kann und was nicht. Die Positionen vor und hinter der Kamera einmal zu wechseln, ist sehr befruchtend."
Ulrike: "Ich glaube, das ist für Regieleute total wichtig, weil man dann erst begreift, was die Schauspieler*innen brauchen, was man ihnen sagen muss, um sie vor der Kamera nicht komplett allein zu lassen. Es gibt ja auch Angst vor der Arbeit mit Schauspieler*innen."
Thomas: "Diese Angst vor der Arbeit mit Schauspieler*innen bekomme ich auch häufig mit. Ich glaube, wenn man ganz konkrete Vorstellungen davon hat, wie etwas aussehen soll, dann muss man erarbeiten, wie man die Schauspieler*innen dort hinbekommt. Wenn man selbst nicht genau weiß, was man will, kann die Arbeit mit den Schauspieler*innen eben auch sehr frustrierend sein. Man muss sich auch wirklich Zeit nehmen, um sich gegenseitig kennenzulernen. Oftmals sind Casting- und Drehtermine so getaktet, dass für ein Kennenlernen keine Zeit bleibt. Das wird oft vernachlässigt, wäre aber sehr wichtig."
Der Terminus der Filmemacher*innen schließt die vorgelagerten Gewerke Drehbuch und Dramaturgie selbstverständlich mit ein. Das Drehbuch ist integraler Bestandteil des Films! Der DDV ließ während des Streiks der WGA sehr bewusst auf die T-Shirts NO SCRIPT, NO FILM drucken.
Wie sieht nun die Arbeit von Drehbuchautor*innen und Dramaturg*innen an sich selbst aus, bevor sie an diverse Drehbücher herangehen? In all den Büchern von Syd Field, Robert McKee & Co. steht im Inhaltsverzeichnis nichts, was in den Büchern zum Schauspieltraining common sense ist, u.a. die Arbeit aus dem Unbewussten, das emotionale Gedächtnis, der Weg von der Improvisation zur Fixation, Sein und Handeln, Angst und Selbstkontrolle, Arbeiten im Moment, Gefühl des Glaubens usw.
Wo läge der Vorteil in einem für Drehbuchautor*innen und Dramaturg*innen adaptierten Schauspieltraining? Lassen wir zwei Branchen-Insider zu Wort kommen. Die folgenden Passagen stammen aus einem Interview, das im Rahmen der Dreharbeiten zu dem Film ICH BIN DEIN MENSCH (D 2021) geführt wurde. Thema - die Zusammenarbeit mit Maria Schrader, verantwortliche für die Regie:
Jan Schomburg (Drehbuch, zusammen mit Maria Schrader): „Ich habe das Gefühl, Maria hat durch ihre schauspielerische Arbeit so ein wahnsinnig präzises Gefühl für das, was Figuren machen würden und für die Psychologie von Figuren.“
Maren Eggert (als Alma in einer der beiden Hauptrollen): „Maria ist eine supertolle Regisseurin. So unglaublich fantasievoll... Ich habe kaum jemanden in meinem Leben getroffen, mit soviel Energie für die Sache... Sie macht 100 % von dem, was sie auch machen will. Sie würde nie Kompromisse eingehen oder von irgendetwas abrücken....Ja, sie ist auch Schauspielerin, was für die Arbeit gut war. Weil man sich viel schneller verständigen kann. Sie weiß, was ich tue, mit welchen Mitteln ich es versuche, kann sie sehr schnell sehen, weil sie es auch Schauspielerin ist. Da konnten wir in der Arbeit die eine oder andere Abkürzung nehmen sozusagen. Ohne langes Rumtesten, einfach Klartext reden.“
Teaser Teil 2
Ende der 80er Jahre - Syd Field’s Technique of Screenwriting hatte seine Grenze erreicht, was die Entwicklung komplexer Charaktere betraf. Keith Cunningham/Tom Schlesinger revolutionierten damals Aristoteles‘ Handlungskurve, indem sie darunter erstens die Ebene des unbewussten Bedürfnisses (Need) einzogen, damit bekam das Thema einen bis dahin noch nicht gekannten Tiefgang, und zweitens der Handlung vor dem Film das Moment der Traumatisierung (Wounding) voranstellten, dessen Bewältigung und Heilung in der aktuellen Filmhandlung zentral wurde. Das wertete die Komplexität von Protagonist*in und Antagonist*in immens auf, was in Folge zur Weiterentwicklung der Schauspielausbildung, z.B. bei Eric Morris, führte. Zu Chris Vogler’s Hero’s Journey, bzw. Maureen Murdock’s Heroine's Journey gesellte sich John Truby’s Strukturmodell Blockbuster dazu. Alles Modelle, die quasi lösungsorientierten Kurztherapien nachempfunden waren und nach wie vor sind. All diese Entwicklungen bedingen adaptierte Schauspielübungen für Drehbuchautor*innen und sie begleitende Dramaturg*innen.