Ich gucke seit über 30 Jahren Filme und Serien: rauf und runter. Aufgewachsen als Tochter einer verwitweten arbeitslosen Schulabbrecherin habe ich Hausaufgaben gemacht, die für mein heutiges Leben irrelevant sind – und nebenbei GILMORE GIRLS geglotzt, was wiederum sehr relevant für meinen jetzigen Beruf als Drehbuchautorin war. Der Fernseher war die schönste Konstante in meinem Leben.
Mit einer mittelmäßigen Note habe ich mein Abitur in Oberbayern geschafft, mir damit den Stempel der „sozialen Aufsteigerin“ abgeholt und mich der bildungsbürgerlichen Meinung unterworfen, dass Fernsehen dumm macht. Ich wollte während meines Bachelor-Studiums an der Filmschule unbedingt eine Intellektuelle sein, die nur die Berliner Schule als wahre Filmkunst gelten lässt. Blockbuster? Dämlich. RTL Zwei? Primitiv. Ich habe alles dafür getan, um bloß nicht als „Assi“ aufzufallen. Hat leider nicht geklappt. Wie der kleine Wunderknabe aus PARASITE haben die Menschen um mich herum gerochen, dass hier jemand nicht dazugehört. Jetzt nach meinem Abschluss frage ich mich, warum auf diversen stinklangweiligen Branchenveranstaltungen so wenige Menschen sind, die wie ich aus der Unterschicht kommen. Warum ich mir zum zehntausendsten Mal die Anekdote zu Klaus-Dieters Bootsführerschein anhören soll. Warum bildungsbürgerliche Feministinnen gerne einen auf intersektional machen, aber Schnappatmung kriegen, wenn man ihr 10000-Eruo Rennrad belächelt. Denn: Hyper-selbstreflektiert zu erwähnen, dass man privilegiert ist, macht einen nicht progressiver. Es ist einfach nur ein Hinweis darauf, dass man im kapitalistischen System oben schwimmt und auch oben bleiben will.
Während das Thema Klassismus für mich allgegenwärtig ist, wird es in der Gesellschaft und in der Filmbranche kaum beachtet. Ich habe meine Masterarbeit zu klassistischen Narrativen geschrieben und schnell gemerkt, dass der wissenschaftliche Duktus nicht die richtige Form ist, um damit an die Öffentlichkeit zu treten. Die Unterschicht muss erfahrbar, Klassismus verständlich gemacht werden. Wenn ich mit Leuten über dieses Thema sprechen möchte, werde ich immer zuerst gefragt, wie meine soziale Herkunft denn genannt werden soll: finanziell schwach, arm, Unterschicht? Aber niemand fragt einfach: Wie ist es, so aufzuwachsen? Definition geht über Empathie. Schublade über Neugier. Deswegen hier jetzt unter der Verweigerung, wie „jemand wie ich“ genannt werden will, nochmal ganz von vorn:
Was ist Klassismus?
Klassismus ist Diskriminierung aufgrund der sozialen Herkunft oder ökonomischen Position. Klassismus ist, wenn Menschen aus der Unterschicht abgewertet, ausgeschlossen, stereotypisiert oder übergangen werden – auf dem Wohnungsmarkt, in Schulen, im Job, in den Medien, in Kultur und Politik. Besonders perfide: Die Verantwortung für Armut wird den Betroffenen selbst zugeschoben. Als wäre Klassenzugehörigkeit ein individuelles Problem – nicht ein systemisches. Als hätte man sich ausgesucht, aus welchem Uterus man kommt.
Beispiele aus meiner Biografie:
Ich konnte schon vor der Grundschule lesen und schreiben. Es war schnell klar, dass ich später auf ein Gymnasium gehen würde, als Erste aus der Familie. Die Mutter einer Mitschülerin fragte daraufhin verwundert, was ich denn auf einem Gymnasium wolle, wir hätten doch gar kein Geld?
Mit 18 war ich auf mich allein gestellt und wurde übergangsweise von einer Mittelschichtsfamilie aufgenommen. Es war der Sommer nach dem Abitur und vor dem Beginn meines Studiums. Ich saß im Esszimmer der gut ausgestatteten Doppelhaushälfte und musste ganz allein das erste Mal in meinem Leben Anträge ausfüllen: Kindergeldweiterzahlung, Bafögantrag, Halbwaisenrentenantrag. Der Vater betrat das Esszimer, beobachtete, was ich tat und sagte dann nach kurzer Zeit in gut gelaunter Selbsterkenntnis: „Weißt du, wenn ich dich so sehe, dann geht’s mir eigentlich gar nicht so schlecht.“ So aufwühlend wie dieser Satz war, war es dann umso schlimmer für mich, von diesen Leuten auch noch Geld annehmen zu müssen, um überhaupt umziehen zu können und den ersten Studienbeitrag zu zahlen.
In meinem Bachelorstudium gab es einen Kommilitonen, mit dem ich einfach nicht warm wurde. Ich fand seinen Angang ans kreative Schreiben viel zu verkrampft und verkopft. Seine Erklärung dafür, dass ich ihn kritisierte war, dass ich Sozialneid auf ihn hatte, weil er eine Zeit lang in London studiert hatte. Klare Logik. Wenn z.B. eine Feministin einen Mann kritisiert, hat sie im Grunde auch nur Penisneid. PoCs, die strukturellen Rassismus kritisieren, wollen doch einfach nur weiß sein.
Meine ehemalige queere Mitbewohnerin lachte mich aus, weil sie die Aufteilung von mir und meinem Partner sehr heteronormativ fand: er fährt die lange Autostrecke, ich habe Essen vorbeireitet. Wie peinlich. Alles klar, weil ich hetero bin, kann ich mir keinen Führerschein leisten.
Und by the way: Zu sagen, dass man „auch mal ein halbes Jahr Hartz 4 bezogen hat“ bietet ungefähr den Einblick den Thomas Gottschalk mit seinem Blackfacing-Jimi-Hendirx-Kostüm bekommen hat: gar keinen.
Klassismus kommt von oben, egal ob linksintellektuell oder als alter weißer Mann und alles dazwischen. Denn es geht bei dieser Art der Diskriminierung immer um die Klasse, der man angehört. Diese Beispiele herauszuarbeiten und zu begreifen, was eigentlich dahinter steckt, hat mich einige Jahre gekostet. Dieses Wissen wollte ich auf den deutschen Film anwenden. Sowohl was den Content betrifft, als auch die Branche an sich. Dabei bin ich einige Zeit nicht vorangekommen, bis ich auf eine Synopsis gestoßen bin.
9 Dinge, die mir der deutsche Film über meine soziale Herkunft erzählen will
Diese Synopsis zu einem Kinderfilm für den KiKa habe ich bei Crew United gefunden. Der Film stammt von einer Firma, die sich Diversität groß auf die Fahne schreibt. Er sollte angeblich Klassismus thematisieren – und hat dabei jedes Klischee bedient. Als Kind hätte ich diesen Film für absoluten Rotz befunden. Dank dieser unterirdischen Synopsis konnte ich allerdings endlich 9 Merkmale erarbeiten, die mir der deutsche Filme zu meiner sozialen Herkunft immer wieder eintrichtern will.
1. Scham – Ich soll meine Herkunft verstecken
Meine soziale Herkunft ist beschämend. Die Normalität sind die anderen. Ich existiere nur im Vergleich zu den Besserverdienenden – als Kontrast, damit sie sich gut fühlen können. Ich schäme mich für meine Kleidung, meine Eltern, meine Existenz. Nicht die Gesellschaft ist schuld – ich bin es. Im Vergleich zu den oberen Schichten bin ich nichts wert, weil ich nichts besitze. Das soll mein Lebensgefühl sein. Scham führt zu Ohnmacht. Die ist praktisch: Sie verhindert Wut, Widerstand, politisches Bewusstsein. Sie hält mich unten. Dabei merke ich gar nicht, dass die Scham nicht aus mir heraus entsteht, sondern mir von Anfang an von den höher stehenden eingeimpft wird.
Der Stereotyp im deutschen Film: meist Kinderfilme. Der kleine Kevin schämt sich für den Beruf seiner Mutter und verheimlicht es oder verstrickt sich in Lügen über ein vermeintliches besseres Leben. Er lernt dann, dass er sich nicht schämen muss mit Hilfe eines Mittelschicht-Kinds. Das Problem ist also mal wieder Kevin.
2. Kein Raum für Träume – Mein einziges Problem ist Geld
Meine Konflikte drehen sich ausschließlich um Geldmangel und die Schwierigkeit, irgendwie über die Runden zu kommen. Das ist mein einziges Problem und deswegen meine Identität. Ich habe keine Träume, Talente und Interessen fernab meiner ökonomischen Lage. Ich diene einer einseitigen Darstellung. Scheidung, Nachbarschaftsstreit, Midlife Crisis, sexuelle Identität, Verrat, sich unsterblich und aussichtslos verlieben, ein Abenteuer erleben. Das ist den anderen Schichten vorbehalten. Ich sitze nämlich nur zuhause und starre auf meinen Kontostand oder den Fernseher. Vielleicht sieht man mich mal schwere Arbeit verrichten für ein Stück trockenes Brot. Ich komme nicht in eskapistischen Genres vor, ich bin nur für den graubetonierten Sozialrealismus in den sogenannten pädagogisch wertvollen Filmen und Serien gedacht. Ich bin eine Lektion, mit mir kann man keinen Spaß haben.
Es scheint ein narrativer Reflex zu sein, dass Figuren aus der Unterschicht nur das Geldproblem haben. Ähnlich zu dem Reflex, dass es bei queeren Figuren sehr oft nur um das Coming Out geht. Warum? Wir sind nicht der Realität verpflichtet beim Geschichtenerzählen. Ja, es ist fucking beschissen, kein Geld zu haben, aber muss ich das dann auch noch auf der Leinwand sehen? Wo sind die Utopien?
3. Unterwürfigkeit statt Gerechtigkeit – Ich soll den Privilegierten die Hand reichen
Ich muss mich mit den Privilegierten versöhnen. Nicht umgekehrt. Es liegt an mir, die soziale Kluft zu überbrücken – am besten mit einem freundschaftlichen Lächeln. Am Ende siegt die Kraft der Freundschaft, die Menschlichkeit. Den darin liegenden Zynismus verstehen nur die Benachteiligten. Integration muss von unten nach oben erfolgen. Ich muss mich diskriminieren lassen und soll mich danach versöhnen. Ich darf die Privilegierten nicht zur Verantwortung ziehen, sie sollen ihre Machtposition nicht reflektieren oder hinterfragen.
Diese Menschlichkeit, an die in solchen Narrativen oft appelliert wird, ist keine Menschlichkeit. Menschlich wäre es, auf die eigenen Privilegien zu verzichten zu Gunsten eines anderen. Das würde wirklich etwas ändern.
4. Armut macht kriminell – Ich werde zur Gefahr
Wer arm ist, wird kriminell. Ich stehle, trinke, rauche, prügle. Bald bin ich im Gefängnis. Schon als Kind. Als drogenherstellender Lehrer bin ich cool, aber als armer Jugendlicher bin ich nur eines: eine Warnung. Die strukturelle Gewalt, die mir das Leben schwer macht? Die kommt im Drehbuch nicht vor.
Besonders beliebt bei Kinderfilmen. An sich wäre dieses Narrativ eine hervorragende Grundlage, Kritik am kapitalistischen System zu üben. Aber dann konzentriert man sich doch lieber auf das bemitleidenswerte Schicksal eines Einzelnen. Die Deutschen denken nicht so gern über strukturelle Probleme nach, sie denken nur in Einzelfällen.
5. Unsichtbar – Als Figur und als Autorin
Im Film: Wenn ich prekär arbeite, komme ich in ein paar Geschichten vor. Wenn ich arbeitslos oder sogar obdachlos bin, existiere ich nicht. Ich kann mich mit niemandem identifizieren, ich bin allein mit meinem Problem.
Wenn ich doch vorkomme, bin ich oft eine Nebenfigur oder werde stereotyp dargestellt, ohne dass meine individuelle Geschichte wirklich im Mittelpunkt steht. Meine Unsichtbarkeit spiegelt wider, wie die Gesellschaft meine Bedürfnisse und Potentiale ignoriert.
Und in der Branche? Wenn ich im Filmbereich arbeite, treffe ich nur auf Menschen aus der bildungsbürgerlichen Mittelschicht, die es nicht schaffen, über ihren Tellerrand zu blicken. Diese Menschen tragen zur Erhaltung der sozialen Ungleichheit bei, in dem sie sich nicht tiefer mit ambivalenten Figuren und Narrativen für und aus der Unterschicht beschäftigen. Gut gemeint ist immer noch diskriminierend.
6. Ich soll aufsteigen – Aber nicht das System ändern
Ich soll sozial aufsteigen. Ich soll mich nicht fragen, warum es überhaupt nötig ist, „aufzusteigen“, ich soll von der Tellerwäscherin zur Millionärin werden, weil ich so stark bin. Leistung, Bildung, Glück. Das ist die Lösung. Nicht die gerechtere Gesellschaft, sondern mein persönlicher Erfolg. Denn mein Aufstieg stabilisiert das System – er beruhigt die Ängste der Mittelschicht, die selbst keinen sozialen Abstieg erleben will. Fragen nach struktureller Veränderung? Die bleiben draußen. Würde gibt’s nur ab Mittelschicht.
7. Kein Sinn für Kultur – Kunst ist nichts für Leute wie mich
Ich habe keinen Zugang und kein Interesse an Kunst und Ästhetik, außer Rap. Aber der ist ja asozial und durchgehend problematisch (sorry Trettmann). Mein Leben ist rein funktional und von materiellen Sorgen dominiert, kulturelle oder künstlerische Ausdrucksformen spielen keine Rolle. Kulturelle Teilhabe und ästhetisches Empfinden ist nur den wohlhabenderen Schichten vorbehalten. Wenn ich mal mit Goethe in Berührung komme, dann nur weil ich an einer Brennpunktschule bin und mit Reimen mein Aggressionsproblem lösen soll. Kunst und Kultur sind Luxusgüter, ich habe ohnehin keine intellektuellen oder künstlerischen Bedürfnisse. Ich lese wenn überhaupt nur die Bildzeitung, liebe Wandtattoos und Tassen, die mit Lebensweisheiten bedruckt sind. Ich habe nur hässliche Klamotten von KiK. Meine Wohnung ist unordentlich und viel zu klein, auf keinen Fall ein Refugium.
8. Ich bin gewalttätig und schlecht erzogen
Meine Sprache ist aggressiv und vulgär, weil ich arm bin und deswegen keine Erziehung genossen habe. Es liegt bestimmt nicht an der patriarchalen kapitalistischen Gesellschaft, die mich mit aller Gewalt nach unten drückt, bis ich nicht mehr kann. Ich muss das Vokabular des Bildungsbürgertums übernehmen, um dazuzugehören. Ich bin impulsiv, ungebildet und immer bereit, meine Probleme mit Gewalt zu lösen. Wenn ich mir um 15 Uhr ein Bier aufmache, habe ich ein Alkoholproblem. Wenn die Bildungsbürger*innen um dieselbe Zeit einen Sekt öffnen, ist das instagram-reifes Daydrinking. #qualitytime
9. Ich werde systematisch ausgeschlossen
Die Filmbranche ist exklusiv und elitär. Renommierte Weiterbildungsprogramme, Mitgliedsbeiträge, Workshops, Akkreditierungen, Drehbuchsoftware. All das kostet eine Menge Geld. Der Einstieg für Menschen aus der Unterschicht könnte nicht schwerer sein. Ja, Selbständigkeit ist eine Entscheidung und für alle herausfordernd. Aber wenn man ein finanzielles Sicherheitsnetz namens Mama oder Oma hat, die einem das 5000-Euro Programm oder andere Dinge „leihen“ kann, merkt man hier eben besonders, dass es im deutschen Film keine Chancengleichheit gibt. Dann wählt man einfacher die Selbständigkeit. Leute wie ich kommen nicht mal auf die Idee, so einen Weg einzuschlagen. Und genau so gelangen eben keine Narrative von der Straße in die Branche, sondern die immer gleichen Mittelschichts-Ideen. Ich nehme aus Prinzip und Trotz nicht (mehr) an teuren Veranstaltungen teil.
Und jetzt?
Wo sind die konkreten Beispiele, fragt ihr euch jetzt bestimmt. Hier kommen wir schon zum Dilemma. Soll ich Leuten ans Bein pissen, die mir einen Auftrag verschaffen könnten? Ich bin abhängig von dieser Branche. Ganz einfach, weil ich Geld verdienen muss. Außerdem kennen wir die Debattenkultur: A prangert etwas bei B an, B geht in die Offensive, vermutet Hetzjagd, schaltet Anwalt ein. Man spricht von Cancel Cutlure und nicht mehr über den eigentlichen Startpunkt der Diskussion. Darauf habe ich schlicht null Bock. Ich schreibe lieber. Meine Stoffe sind niemals Mittelschicht, aber sie wandern durch die Hände von diesen Menschen. Ich wünschte, es wäre anders. Ich suche ständig nach Menschen mit ähnlicher Herkunft oder zumindest einem Funken Reflektion. Bisher ohne Erfolg. Es ist zum Kotzen.
Ganz schön viel Wut in einem Text. Aber was bleibt mir übrig? Ich trete gern nach oben. Ich habe jetzt zwei Jahre an diesem Text gearbeitet. Weil ich oft aufgeben wollte. Weil ich dachte: Wen interessiert das? Aber vielleicht – vielleicht gibt es irgendwo den einen Funken, der überspringt.
Ich war mal bei einem Workshop mit dem Titel Beyond Stereotypes. Es ging darum, Klischees zu hinterfragen. Ich fragte gegen Ende, ob auch etwas zum Thema Klassismus geplant sei. Antwort: „Nein, sowas machen wir nicht.“ Dafuq. Vielleicht lest ihr ja diesen Text und schämt euch. Denn ich werde es nicht mehr tun.
P.S.: Du kommst auch aus der Unterschicht und suchst nach Kompliz*innen? Du willst deinen Horizont erweitern und an neuen Narrativen arbeiten? Du siehst mich nicht nur als Nische für den nächsten Krimi-Pitch? Hit me up!